Im Meer

[366] Der Himmel hängt wie Blei so schwer

Dicht auf dem wildempörten Meer;

Ein englisch Segel, fast die Quer,

Schießt wie ein Pfeil darüber her.


Ein Messer, so das Meer sich schliff,

Da starrt ein scharfes Felsenriff

Und schlitzt das Engelländerschiff;

Das Meer tut einen guten Griff.


Viel tausend Bibeln sind die Fracht,

Die sinken in die Wassernacht;

Schon hat in blanker Schuppentracht

Das Seevolk sich herbeigemacht.


Da wimmelt es von Lurch und Fisch,

Sie sitzen am Korallentisch,

Her schießt der Leviathan risch:

Was ist das für ein Flederwisch?


Die Seeschlang als die Königin

Kommt auch und blättert her und hin,

Sie putzt die Brill und liest darin

Verkehrt und findet keinen Sinn.


Sie ziehn den Steuermann empor

Und halten ihm die Bibel vor;

Doch der zu schweigen sich verschwor –

Das Meer durchbraust sein taubes Ohr.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 366-367.
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