22. Kapitel
Dankbares Gedenken an die vielfachen Wohltaten Gottes.

[120] 1. Der Mensch: Schließ mein Herz auf, daß ich dein Gesetz verstehe, und lehre mich, auf der Bahn deiner Gebote wandeln. Gib mir Kraft, deinen Willen zu erkennen und deine Wohltaten im allgemeinen und im besondern mit ungeteilter Aufmerksamkeit zu betrachten und mit tiefer Ehrfurcht im Andenken zu behalten, damit ich dir würdig dafür danken kann. Oh, ich weiß es wohl und bekenne es laut, daß ich unfähig bin, dir auch nur für die geringste Wohltat genug zu danken. Ich bin zu gering, auch nur zu denken an alle die Gaben, die ich von dir empfangen habe, und[120] wenn ich zu der edlen Liebe des Wohltäters aufsehe, oh, dann versagt mein Geist vor deiner Größe.

2. Was wir Gutes haben an Leib und Seele, in uns und außer uns, alles Gute, es liege in dem Gebiete der Natur, oder es sei höher als alle Natur, alles Gute ist deine Gabe, und preist dich als den Geber voll Güte und Milde, von dem wir alles Gute empfangen haben. Und wenn einer gleich mehr, der andere weniger empfangen hat, so ist doch alles deine Gabe, und ohne dich hätten wir nicht einmal das Geringste.

Wer mehr empfangen hat, darf es nicht etwa als sein Verdienst, das ihm Ehre machte, ansehen, darf sich nicht über andere erheben, nicht den, der geringer ist, mit höhnendem Stolz verachten. Denn der nur ist größer und besser, welcher sich selbst weniger zuschreibt und im Danken mehr Demut und Andacht bezeugt. Und gerade der, welcher in seinem Auge geringer und unwürdiger ist als andere, der ist auch fähiger, größere Gaben zu empfangen als andere.

3. Wer aber weniger empfangen hat, soll deshalb nicht traurig noch unwillig werden, noch seinen reicheren Nachbarn mit Neid ansehen, sondern er soll zu dir aufsehen und deine Güte dafür preisen, daß du ohne parteiische Vorliebe für die Person so viele Gaben und so reichlich und so milde ganz ohne alles Verdienst ausspendest.

Alles ist deine Gabe, also bist du auch in allem zu loben. Du weißt, was für eine Gabe jedem nützlich ist, warum dieser mehr, jener weniger empfangen hat; darüber können wir nicht Richter sein, das kannst du allein entscheiden, der du den Wert eines jeden Menschen bestimmt hast.

4. Daher achte ich es auch für eine große Wohltat, o mein Gott und Herr, daß ich nicht viel besitze, was in den Augen der Menschen glänzt und den Besitzer groß und herrlich macht. Eben deswegen soll ein Mensch im Überdenken seiner Armut und Niedrigkeit nicht mißmutig, traurig oder gar mutlos werden, sondern sich dadurch vielmehr zum Trost und zur Freude ermuntern lassen, weil du, mein Gott, die[121] Armen und Demütigen und in dieser Welt Verachteten zu deinen Hausgenossen und vertrauten Freunden gemacht hast. Deine Apostel, die du zu Fürsten in deinem Reich gemacht hast, sind Zeugen dieser Wahrheit. Ohne Tadel war ihr Wandel auf Erden, ohne Falsch und Arg ihr Sinn, und so einfältig und demütig ihr Herz, daß sie es auch für Ehre und Freude hielten, um deines Namens willen Schmach zu leiden, und was die Welt verabscheut, mit Inbrunst umfaßten.

5. Wer also dich lieb hat und deine Wohltaten kennt, soll seine größte Freude daran haben, daß dein Wille in allem geschieht, und alles, was du von Ewigkeit geordnet hast, nach deinem Wohlgefallen vollbracht wird. Diese deine ewige Ordnung soll sein ganzer Trost und der Grund seiner Zufriedenheit sein. Aus Achtung vor deiner Ordnung sollte er so willig und zufrieden dabei sein, wenn er mißkannt und verachtet wird und sein Name aus dem Andenken der Menschen verschwindet, als wenn ihn die Welt über alle anderen Menschen hinaufsetzte und ihm die erste Stelle einräumte. Denn dein Wille und der Eifer, deinen Namen zu verherrlichen, muß bei ihm über alles gehen; dein Wille muß ihm mehr Trost und Freude gewähren als alle Gaben, die er empfangen hat oder noch empfangen könnte.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 120-122.
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