37. Kapitel
Von dem reinen und gänzlichen Verzicht auf sich selbst, dem Weg zur wahren Freiheit des Herzens.

[144] 1. Der Herr: Mein Sohn, laß dich, dann findest du mich. Sei in allem ohne Eigenwillen und Eigentum, dann gewinnst du in allem. Denn sobald du dich ganz mir überlässest und dich nicht mehr zurücknimmst, sogleich strömt Gnade und Gnade in dein Herz.

Der Mensch: Mein Herr, wie oft soll ich mich preisgeben, worin mich verlassen?

Der Herr: Immer und immer, zu jeder Stunde, im Kleinen und im Großen. Ich lasse hier keine Ausnahme gelten; ich will dich ganz nackt und bloß finden. Denn wie werden wir einst Eines werden, ich dein, du mein, wenn du dich noch nicht von allem Eigenwillen im Innern und Äußern frei und los gemacht hast? Je schneller du an dies große Werk Hand anlegst, desto besser für dich; je aufrichtiger und eifriger[144] du an der Vollendung dieses großen Werkes arbeitest, desto mehr gefällst du mir, und desto größer ist dein Gewinn.

2. Einige geben sich preis, aber mit Vorbehalt und Ausnahme. Sie trauen ihrem Gott nicht ganz, darum wollen sie sich selbst versorgen. Einige ergeben sich, anfangs, ganz an mich, aber wenn sie die Versuchung in die Enge treibt, dann laufen sie wieder zu sich selbst zurück und kommen deshalb in der Tugend nicht weiter. Alle diese werden die wahre Freiheit des reinen Herzens und die Gnade meines freundlichen Umganges nie erlangen, bis sie sich ganz an mich ergeben und täglich sich selbst als Opfer darbringen. Ohne diese Selbstaufopferung kann die selige Einswerdung jetzt und später nicht bestehen.

3. Ich habe es dir schon oft gesagt und sage es dir wieder: Verlaß dich, verzichte auf dich, und du wirst in mir großen inneren Frieden haben. Gib alles um alles hin, suche dir nichts heraus, nimm nichts zurück von dem Opfer; halt dich fest an mir, und an mir allein, und du sollst mich haben. Dann wird dein Herz frei sein und keine Finsternis dich überwinden können. Danach ringe, darum bitte, danach strecke sich all dein Verlangen aus, daß du von allem Eigenwillen rein ausgezogen, nackt dem nackten Jesus nachfolgen, dir sterben, mir ewig leben kannst. Dann werden alle eitlen Traumgestalten deiner Einbildungskraft als böse Verwirrungen des Gemütes und als unnütze Sorgen des Herzens dahin sein. Dann wird auch die unmäßige Furcht vor dir fliehen und die ungeordnete Liebe sterben.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 144-145.
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