45. Kapitel
Sei nicht leichtgläubig und gedenke, daß deine Worte dich leicht zu Falle bringen.

[154] 1. Der Mensch: Mein Gott! hilf du mir aus meiner Drangsal, denn die Hilfe der Menschen ist eitel. Wie oft fand ich da keine Treue, wo ich sie mit Zuversicht gesucht habe, und oft fand ich sie dort, wo ich sie nicht gesucht hatte! Eitel ist also alle Hoffnung, die auf Menschen ruht; aber fest steht das Heil der Gerechten, denn es kommt von dir, o Gott, und ruht in dir. Dein Name sei gepriesen in allem, was uns begegnet.[154] Denn wir Menschen sind schwach und unstet, lassen uns leicht hintergehen und werden schnell eines anderen Sinnes.

2. Wo ist der Mensch, der sich überall mit so viel Vorsicht und Wachsamkeit leiten und selbst bewahren kann, daß ihn nie irgendein Vorfall täuscht oder aus seiner Fassung bringt? Wer aber auf dich, o Herr, vertraut, wer dich in Einfalt des Herzens sucht, der fällt nicht so leicht. Und wenn auch noch so heiße Leiden über ihn kommen oder noch so künstliche Fallstricke seine Bahn unsicher machen, so wirst du ihn schnell herausreißen oder sein mattes Herz erquicken; denn du verlässest ewig nie die Deinen, die auf dich trauen.

Ein seltener Fund auf Erden ist der treue Freund, der in allen Nöten seines Freundes mit ihm ausharrt. Dieser Freund, der in allen Nöten seines Freundes treu bleibt, und der treueste aus allen Freunden, bist du, o mein Gott! und außer dir ist keiner!

3. O wie weise und groß war der Sinn jener heiligen Seele, die da sagte: Meine Seele ist tief gegründet und steht unbeweglich fest in Christus! Wenn ich auch auf diesem festen Grunde fest stünde, dann würde mich keine Menschenfurcht so leicht hin- und herbewegen, kein Wort-Pfeil von der Stelle rücken können. Wer kann auch alles vorhersehen, wer ist groß und mächtig genug, allen künftigen Übeln vorzubeugen? Wenn uns das, was wir vorhergesehen haben, verwundet, soll das, was uns unversehens trifft, nicht noch eine tiefere Wunde schlagen? Aber, warum war ich Elender nicht vorsichtiger? Warum war ich bei den Erzählungen anderer so leichtgläubig? Warum? Weil wir Menschen sind und nichts anderes als gebrechliche Menschen sind, wenn uns auch viele für Engel halten und ausgeben. Wem soll ich glauben als dir allein, o mein Herr und Gott? Du bist die Wahrheit, die nicht trügen und nicht betrogen werden kann. Und an einem anderen Orte (Ps. 116, 11) heißt es sehr wahr: Der Mensch ist voll Trug und Lug, er ist schwach, unstet, gebrechlich, besonders im Worte, das aus seinem Munde kommt. Man[155] darf doch dem Worte des Menschen kaum glauben, wenn es noch so viel Schein des Rechten für sich hat!

4. Wie weise hast du zum voraus (Matth. 10, 17) gewarnt, daß wir uns vor Menschen hüten sollen: Die Hausgenossen sind des Menschen Feinde (Matth. 10, 36), und: Glaubet es doch nicht, wenn jemand sagt: Sieh hier, oder: sieh dort! (Mark. 13, 21.) Mein eigener Schaden hat mich oft genug belehrt, und Gott gebe, daß ich Vorsicht gelernt habe und die alten Torheiten nicht mit neuen vermehre!

Jetzt spricht einer zu mir: sei vorsichtig und nur recht vorsichtig! behalt es bei dir, was ich dir sage. Und da ich es bei mir behielt und ehrlich glaubte, daß es noch geheim sein und bleiben werde, könnt' er es selbst nicht verschweigen, da er mich doch zur Verschwiegenheit aufgefordert hatte, ging hin, und ward sein und mein Verräter.

Mein Gott! Laß mich doch von solchen unvorsichtigen Menschen und ihrem Lügenkram frei werden; schütze du mich, daß ich nicht in ihre Hände falle und mich nie der nämlichen Torheit schuldig mache. Lege du mir ein wahres, festes Wort in den Mund und bewahre mich vor dem Schlangengift einer listigen Zunge. Was ich nicht leiden mag, davor muß ich mich wohl mit allem Fleiße hüten.

5. O wie gut und friedsam ist es, wenn man über andere schweigen kann, nicht alles, was andere erzählen, ohne nähere Prüfung glaubt, das Gehörte nicht leicht wieder nacherzählt, sein Herz wenig Menschen aufschließt, zu dir, o Gott, als dem allgegenwärtigen Herzenskenner am liebsten aufblickt, sich nicht durch jeden Windstoß von Worten hin- und herbewegen läßt und durchaus keinen anderen Wunsch in sich trägt, als daß alles in uns und außer uns nach der Richtschnur deines heiligen Willens geordnet und gelenkt werden möchte!

Wie viel trägt es doch zur sicheren Bewahrung der himmlischen Gnade bei, wenn man nicht vor Menschen glänzen, nicht nach Beifall und Bewunderung haschen, sondern dem allein mit allem Fleiße nachringen will, was unser Leben[156] besser, und unsern Eifer für das Gute lebendiger macht! Für wie viele war es schädlich, daß man ihre Tugenden ausposaunte und vor der Zeit lobte! Wie nützlich war es im Gegenteil, den Schatz der Gnade geheimzuhalten in diesem gebrechlichen Leben, das ganz aus Angriff und Widerstand, aus Streit und Widerstreit zusammengesetzt ist!

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 154-157.
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