7. Kapitel
Demut sei Hülle und Hüterin der Gnade.

[95] 1. Der Herr: Mein Sohn! Die Gnade der Andacht geheim halten, dich deshalb nicht über andere erheben, nicht viel davon reden, nicht viel Gewicht darauf legen, vielmehr dich selbst verachten und auch in Hinsicht auf die Gnade, die dir wider dein Verdienst gegeben ward, nicht ohne alle Furcht sein, dies ist für dich das Sicherste und Beste. Du mußt dein Herz selbst an diese Empfindung nicht so fest anhängen; denn diese Empfindung kann schnell dahin sein und dem Gegenteil Platz machen. Ist die Gnade der Andacht da, so denke daran, wie dürftig und elend du bist, wenn sie nicht da ist. Das wirkliche Fortschreiten im geistlichen Leben besteht nicht etwa nur darin, daß du die Gnade der himmlischen Tröstungen genießest, sondern auch darin und vorzüglich darin, daß du voll Demut und Selbstverleugnung, auch bei weichender Gnade, dein Herz in Geduld bewahrst, deshalb den Eifer zum Gebete nicht kalt werden und die übrigen guten Werke, die du sonst getan hast, jetzt nicht ganz ungetan lässest. Vielmehr alles, was du noch tun kannst, tu nach deinem besten Wissen und Können willig. Vernachlässige dich selbst wegen der Dürre des Geistes und wegen der Angst der Seele, die dich drückt, nicht ganz und gar.

2. Denn es gibt viele, die, wenn es ihnen nicht nach Wunsch geht, sogleich ungeduldig oder träge werden. Weder Bahn noch Gang liegen immer in der Macht des Menschen. Geben und Trösten ist Gottes Sache. Er gibt Trost, wem er will, wann er will, und soviel er will, und wie es ihm gefällt, und nicht mehr.

Einige gingen im Gefühle der Andacht unbehutsam zu Werke und richteten sich selbst zugrunde, weil sie mehr tun wollten, als sie konnten, weil sie das geringe Maß ihrer Kräfte überspannten, weil sie sich mehr der Neigung ihres Herzens überlassen, als der Vernunft die Leitung übergeben[95] wollten. Und weil sie in Anmaßung des blinden Eifers größere Dinge unternahmen, als Gottes Wille durch sie ausrichten wollte, so war die Gnade ehe sie sich's versahen dahin. Sie wollten ihr Nest in den Himmel bauen und fielen sich selbst überlassen auf die Erde herab und mußten da arm und gering liegen, damit sie in Armut und Niedrigkeit lernten, nicht mehr mit ihren eigenen Flügeln in die Höhe zu fliegen, sondern unter meinen Flügeln in stiller Zuversicht zu ruhen.

Die noch Neulinge und in den Führungen des Herrn unerfahren sind, die kann leicht irgend ein Schein täuschen, oder eine Übermacht vernichten, wenn sie nicht das Auge erfahrener Ratgeber ihren Leitstern sein lassen.

3. Wenn sie aber lieber ihrem eigenen Dünkel folgen als dem Urteile der Geübteren glauben wollen, so werden sie ein gefahrvolles Ende nehmen, wenn sie sich nicht doch noch von ihrer eigenen Auffassung abbringen lassen. Selten ertragen die, die sich selbst weise dünken, sich von anderen demütig leiten zu lassen.

Besser wenig Wissenschaft mit viel Demut und kleinem Verstande als große Reichtümer von Wissen mit viel Selbstgefälligkeit besitzen. Besser für dich, wenig zu haben, als viel, das dich durch Hochmut zugrunde richten kann.

Dem fehlt es sicherlich an Klugheit, der sich ganz der Freude hingibt, seine vorige Dürftigkeit und die heilige Furcht Gottes vergißt, die immer fürchtet, daß ihr die gegebene Gnade wieder geraubt wird.

Auf der andern Seite fehlt es auch dem an der Weisheit, der in der Stunde der Trübsal und des Druckes den Mut sinken läßt und verzweifelt und nicht mit soviel Zuversicht, als er könnte und sollte, den Gedanken an mich und den Sinn für mich in seinem Herzen festhält.

4. Wer in den Zeiten des Friedens zu viel Sicherheit in seinem Herzen wurzeln läßt, der wird in den Tagen des Krieges zu viel Furcht und Zaghaftigkeit spüren müssen. Könntest du immer demütig und maßvoll in dir bleiben und[96] die Bewegungen deines Herzens wohl mäßigen und regieren, so würdest du nicht so oft in Gefahr geraten und so leicht anstoßen.

Es ist ein weiser Rat: wenn in der Stunde der Andacht die Flamme des Eifers lichterloh brennt, so denke, wie es dir zu Mut sein wird, wenn Licht und Feuer wieder verschwunden sein werden. Wenn das dann eintritt, so denke, daß sie wieder kommen können, weil ich sie auf eine Zeit zurückgenommen habe, um dich in der Wachsamkeit zu gründen und um meinen Namen an dir zu verherrlichen.

5. Eine solche Prüfung ist dir weit nützlicher, als wenn dir alles nach deinem eigenen Willen glücklich vonstatten ginge. Denn das, was den eigentlichen Wert des Menschen ausmacht, muß man nicht messen nach den vielen Erscheinungen oder himmlischen Tröstungen, auch nicht nach größerer oder geringerer Kenntnis der heiligen Schriften, auch nicht nach den höheren Ständen und Stufen, auf denen der Mensch zu stehen kommt, sondern das allein ist der rechte Maßstab des Verdienstes: in wahrer Demut tiefgegründet und mit göttlicher Liebe erfüllt sein; in allem die Ehre Gottes allein und allezeit und ohne alle Nebenabsicht suchen; sich für nichts halten und in Wahrheit verachten, und mehr Freude an Verachtung und Erniedrigung als an Hochachtung und Erhöhung vor der Welt haben.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 95-97.
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