14. Kapitel
Richte nicht unbedacht!

[27] 1. Kehre deinen Blick einwärts und hefte ihn auf dein Innerstes, und erkühne dich nicht, zu richten, was andere tun. Denn, wer andere gern richtet, der arbeitet erstens umsonst, verfehlt zweitens die Wahrheit öfter als er sie trifft, und versündigt sich drittens leichter als er glaubt. Wer aber sich selbst erforscht, sich selbst richtet, der arbeitet mit Segen.

Wie unser Herz gegen eine Sache gestimmt ist, so urteilt unser Verstand davon. Das gerade, wahre Urteil über die Dinge verlieren wir gar leicht, weil wir uns selbst mehr lieben als die Wahrheit. Wäre Gott immer der einzige Zielpunkt unseres Herzens, so könnten uns die Widerstände gegen unseren Sinn nicht so leicht aus der Fassung bringen.

2. Aber, bald zieht uns etwas Verborgenes in uns, bald kommt etwas von außen dazu und zieht uns mit fort. Viele suchen in allem, was sie tun, nur sich selbst; aber sie merken es nicht. Sie scheinen wohl auch inneren, festen Frieden zu haben, so lange alles nach ihrem Sinn und Wunsche geht. Wenn sich aber die Sache gegen ihren Willen dreht, so sind[27] sie im Augenblick mit sich entzweit und lassen den Kopf hangen. Und weil doch jeder Mensch seinen eigenen Kopf, und jeder Kopf seine eigene Meinung hat, so entstehen auch unter Freunden und Mitbürgern, unter Ordensleuten und unter den Frommen, leider! oft genug Mißverstand und Zwietracht.

3. Alte Gewohnheit können wir nur mit äußerster Mühe aufgeben, und niemand sieht es gern, daß man ihn weiter führt als sein Auge reicht. Solange du dich mehr auf deine Einsicht und Kraft verlässest, als auf die Macht Jesu Christi, der alles untertan sein soll, solange wird dich dieser dein Eigensinn hindern, zur wahren Erleuchtung des Geistes zu gelangen. Denn es ist Gottes Wille, daß wir uns ihm in allen Dingen vollkommen unterwerfen und uns auf den Flügeln der flammenden Liebe über den engen Kreis unserer eignen Einsichten sollten erheben lassen.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 27-28.
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