18. Kapitel
Von den Beispielen der heiligen Väter.

[32] 1. Schau auf die lebendigen Beispiele der heiligen Väter, in denen die wahre Vollkommenheit und Gottseligkeit lichthell erstrahlte, und du wirst sehen, wie alles, was wir tun, wenig und fast gar nichts ist. Ach, was ist unser Leben, wenn wir uns mit ihnen vergleichen! In Hunger und Durst, in Frost und Blöße, in Mühe und Plage, im Wachen und Fasten, in Gebeten und heiligen Betrachtungen, in mancherlei Verfolgung und Schmach haben die Heiligen, die wahren Freunde Christi, ihrem Herrn gedient.

2. Oh, wie viele und schwere Leiden haben die Apostel, die Blutzeugen, die Bekenner des Herrn, die heiligen Jungfrauen und alle anderen, die den Fußtapfen Jesu Christi mutig nachgegangen sind, ausgestanden! Denn sie haben ihre Seelen in dieser Welt gehaßt, um sie fürs ewige Leben zu besitzen. Die heiligen Väter in der Einöde, wie strenge und losgerissen lebten sie! Wie anhaltend und schwer waren die Versuchungen zur Sünde, in denen sie ausgedauert haben! Wie oft wurden sie von dem unsichtbaren Feinde geplagt! Wie viele und glühende Gebete opferten sie dem Herrn! Wie strenge war ihre Enthaltsamkeit, wie groß ihr Wetteifer, im Guten zuzunehmen, wie heiß der Kampf, den sie zur Besiegung des Bösen ausgehalten haben! Wie rein und wie gerade die Richtung ihres Herzens zu Gott! Der Tag war der Handarbeit und die Nacht dem anhaltenden Gebete gewidmet; doch auch zur Zeit, da die Hand arbeitete, dauerte das stille Gebet des Herzens ununterbrochen fort.

3. Nützlich ward alle Zeit zugebracht; aber auch die längste Zeit, in der sie mit Gott Umgang hatten, war ihnen doch immer zu kurz. Die Süßigkeit, die sie in der heiligen Beschauung durchströmte, war manchmal so groß, daß sie darüber vergaßen, dem Leibe die notwendige Erquickung zu verschaffen. Allem, was Reichtum, Würde, Freundschaft, Verwandtschaft[32] heißt, hatten sie den Abschied gegeben; sie wollten nichts mehr von der Welt haben, als kaum die bloße Notdurft des Leibes, und auch diese dem Leibe reichen zu müssen, war ihnen schon schmerzlich.

4. Sie waren also arm an allem Irdischen, aber sehr reich an Gnade und Tugend; dürftig im Äußeren, im Inneren aber voll Gnade und göttlicher Tröstung; abgewandt von der Welt, aber Gottes nächste Verwandte und trauteste Freunde; in ihren eignen Augen und im Auge der Welt waren sie nichts, aber in den Augen Gottes köstlich und teuer. Wahre Demut war ihr Grund und Boden, auf dem sie standen, einfältiger Gehorsam ihr Leben, Liebe und Geduld ihr Wandel; und groß ward ihre Gnade bei Gott. Sie sind für alle Ordensleute und alle Gottsucher als Beispiele aufgestellt, und sie sollten uns weit mehr zum Eifer im Guten spornen, als die Zahl der Lauen zur Nachlässigkeit verführt.

5. O wie mächtig war der Eifer der Ordensleute in den ersten Tagen ihrer heiligen Stiftungen! Wie groß die Andacht im Gebete, wie rastlos die Begierde, einander auf der Bahn der Tugend zu überflügeln, wie blühend die Zucht, der Gehorsam und die Ehrerbietung in allem, was Vorschrift ihres Lehrers war! Die Fußtapfen, die sie uns hinterlassen haben, bezeugen es noch, daß es heilige und vollkommene Männer waren, die so tapfer gekämpft und die Welt so glücklich unter die Füße gebracht haben. Jetzt hält man den schon für einen großen, seltenen Mann, der nur kein Gebot übertritt und das Widrige, das ihn etwa trifft, geduldig trägt.

6. Ach, daß wir so lau und nachlässig in unserem Berufe sind! daß wir so frühe die erste Liebe verloren haben. So lau und träge sind wir geworden, daß es uns fast verdrießt, uns durch dieses Leben durchzuschleppen. O daß doch dein Eifer, besser zu werden, sich nicht ganz in den Todesschlaf legte, nachdem du so viele Beispiele gottseliger Menschen mit deinen Augen gesehen hast![33]

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 32-34.
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