3. Kapitel
Laß die Wahrheit selbst deine Lehrmeisterin sein!

[12] 1. Selig, den die Wahrheit durch sich selbst unterweist, nicht durch Bilder, die verschwinden, nicht durch Worte, die verschallen. Selig, dem sie sich offenbart, wie sie ist. Denn unser Meinen trügt uns oft, und unser Sinn reicht nicht weit. Was nützt es uns denn, daß wir uns den Kopf zerbrechen über Dinge, die verborgen und dunkel sind und verborgen und dunkel bleiben dürfen, ohne daß wir deshalb am Tage des Gerichtes zur Verantwortung gezogen werden? Es ist eine recht große Torheit, daß wir Dinge, deren Erkenntnis uns nützlich oder gar notwendig ist, außer acht lassen, und dafür Dinge, die bloß unsere Neugier reizen und uns dabei noch schaden können, erforschen! Da heißt es recht: Augen haben, und nicht sehen!

2. Und was liegt uns denn am Ende daran, daß wir all das wissen, was die Schulen von Gattung und Art der Dinge zu sagen wissen?

Zu wem das ewige Wort spricht, der wird vielerlei Meinungen los. Es kommt doch alles von Einem Worte her, und[12] alle Dinge zeugen im Grunde nur von Einem Worte, und dies Eine Wort ist dasselbe Wort, das der Anfang ist und jetzt auch zu uns redet. Ohne dieses Wort findest du keine rechte Einsicht und kein wahres Urteil. Wer das Eine in allem findet, wer alles auf das Eine zurückführt, wer in Einem alles sieht, der kann ruhigen, festen Sinn behalten und den schönen Frieden mit seinem Gott nie verlieren. O Wahrheit, Gott! mach mich eins mit dir, in ewiger Liebe. Wie oft ekelt es mich doch, so vielerlei zu lesen und zu hören! Denn alles, wonach mein Herz verlangt, ist in dir allein. Schweigen sollen alle Gelehrten, stille sein alle Geschöpfe vor deinem Angesichte: du allein rede zu mir!

3. Je mehr ein Mensch eins mit sich und einfältig in seinem Innersten geworden ist, desto mehr und höhere Wahrheiten lernt er ohne sonderliche Mühe kennen; denn das Licht der Erkenntnis fällt alsdann bei ihm von oben ein. Ein Geist, der rein, einfältig und beständig in seinem Innersten geworden ist, wird auch durch die vielen Geschäfte des Lebens nicht zerstreut; denn er tut alles zur Ehre Gottes und arbeitet in sich, all den geheimen Wünschen der Eigenliebe auf immer Abschied zu geben. Wer hindert und plagt dich doch mehr als die Neigung deines Herzens, die noch ihr volles, ungetötetes Leben hat?

Der gute und fromme Mann, der sich seinem Gott ganz geweiht hat, ordnet zuerst im Inwendigen alles, was er nachher draußen zustande bringen muß. Nicht ihn zieht das, was er tut, dahin, wohin ihn die sündhaften Neigungen haben wollen, sondern er lenkt die Neigungen dahin, wo sie das Gesetz der gesunden Vernunft haben will. Wer hat einen heißeren Kampf zu kämpfen als wer da mit sich selbst im Streite liegt, um sich zu überwinden? Und dies sollte unser eigentliches Geschäft auf Erden sein: sich selbst zu überwinden und täglich mehr Stärke über sich zu gewinnen und täglich im Guten vorwärts zu schreiten.

4. Alle Vollkommenheit dieses Lebens hat eine gewisse Unvollkommenheit, und all unser noch so lichthelles Forschen[13] hat sein Dunkel. Demütige Erkenntnis deiner selbst führt dich sicherer zu Gott als tiefes Graben nach Wissenschaft. Zwar muß man weder das gelehrte Wissen noch das einfache Erkennen einer Sache tadeln, denn es ist ein gutes Ding um das Wissen und Erkennen, und es gehört in Gottes große Haushaltung hinein. Aber ein reines Gewissen und ein Leben voll Tugend ist ohne Vergleich mehr wert. Und gerade weil den meisten Menschen das Vielwissen mehr am Herzen liegt als das Rechtleben, gerade deshalb geraten sie auf so viele Irrwege und schaffen keine oder nur geringe Frucht.

5. Oh, wenn sie so rastlos daran arbeiteten, hier Laster auszurotten, dort Tugenden zu pflanzen, wie sie sich müde studieren, um ihresgleichen ein neues Rätsel aufgeben zu können: ich denke, es würde nicht so viel Unrecht und Ärgernis im Volke, nicht so viel Zuchtlosigkeit in den Klöstern sein. So viel ist klar: am Tage des Gerichtes wird man uns nicht fragen, was wir gelesen, sondern was wir getan haben; nicht fragen, wie schön wir gesprochen, sondern wie fromm wir gelebt haben. Sag mir doch, wo sind jetzt alle jene Herren und Meister, die du ehemals als hervorragende Lehrer gut gekannt hast? Auf ihren Pfründen sitzen nun andere, und ich weiß nicht, ob diese an ihre Vorgänger noch denken. So lange sie lebten, meinte man wohl, sie wären etwas Großes; aber nun liegen sie in tiefer Vergessenheit.

6. O wie schnell vergeht die Herrlichkeit der Welt! Hätten sie ihr Leben mit ihrem Wissen in Übereinstimmung gebracht, dann hätten sie recht studiert und recht gelesen. Wie viele gehen doch durch ihr eitles Wissen in dieser Welt zugrunde, weil sie sich so wenig um den Dienst Gottes kümmern! Und weil sie lieber groß als demütig sein wollen, so werden sie in ihren Gedanken vollends eitel. Es ist doch nur der wahrhaft groß, der große Liebe hat. Es ist nur der wahrhaft groß, der in seinen Augen klein ist und alle Gipfel der Weltehre für nichts halten kann. Es ist nur der wahrhaft weise, welcher alles Irdische für Auskehricht hält, um Christus[14] zu gewinnen. Es ist nur der wahrhaft gelehrt, der seinen eignen Willen verleugnet und Gottes Willen tut.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 12-15.
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