Wie ist das Deutsche Vaterland?

[20] Sieh', das Haus ward mir zu enge,

Und es trieb mich in die Welt,

In des Tales dunkle Gänge,

wo sich's wie im Traum verhält.


Rebenhügel, Tannenwälder,

Mitten hin des Stromes Band,

Schmucke Auen, Weizenfelder,

Schönes, Deutsches Vaterland!


Zu den blankgeputzten Hütten,

Droben auf der Bergeshöh'

Zog es mich mit raschen Schritten,

Und verwundert still ich steh'.


Eine Stimme ruft von innen,

Eine Stimme klar und hell:

»Guter Jüngling, geh' von hinnen,

Schreit nicht über diese Schwell'!


Steig' auf Burgen, steig' auf Zinnen,

Sieh' von außen an das Land,

Was Du sehen kannst da drinnen,

Es verwirrt Dir den Verstand.
[21]

Unsrer Hütten trübe Weise

Paßt nicht zu der schmucken Au,

Guter Jüngling, wirst zum Greise,

Und Dein Lockenhaar wird grau.«


Blümlein ranken um die Mauer,

Schön bepflanzt von welker Hand,

Und benetzt von Tränenschauer,

Grünt das Deutsche Vaterland!


Quelle:
Friederike Kempner: Gedichte. Berlin 81903, S. XX20-XXII22.
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