11.
11. [Diese Feuerruferin]

[56] Diese Feuerruferin,

Ries'ger Schmetterling der Nacht,

Flieget, wenn kein Mensch mehr wacht,

Manchmal über die Dächer hin.

Dann sich rötet rings die Luft,

Als ob's brenne ungeheuer,

Und wie voll Verzweiflung ruft

Aus der Luft es: »Feuer! Feuer!«

Wer es hört, ruft's nach und rennt

Fort und ruft: »Wo brennt ein Haus?«

Doch die Röte losch schon aus,

Und ringsum es nirgends brennt.

Dann nach sieben Tagen sieht

Klar der Wächter auf dem Turm

Ein furchtbares Feuer, zieht

Alle Glocken an zum Sturm.

Glocken tönen auch vom Land,

Feuerspritzen rasseln her,

Doch der Wind weht allzusehr,

Und zehn Häuser frißt der Brand.

Wer die Feuerruferin

Einst im Erdenleben war,[56]

Das ist jedem Landmann klar,

Und kein Glaskopf irre ihn!

Ha! sie war ein böses Weib,

Das erdrosselt ihren Mann,

Zu verbergen seinen Leib,

Zündete das Haus sie an.

Zornig wehte dann der Wind,

Immer mehrte sich die Glut,

Zehen Häuser fraß geschwind

Und sie mit des Feuers Wut.

Sieben Tag' doch, eh' ein Brand

Ruft zu Hilfe Stadt und Land,

Packt zu ihrer Buße dann

Plötzlich sie ein mächt'ger Wind,

Wirbelt mit ihr auf geschwind,

Daß den Brand sie sage an.

»Feuer!« sie gezwungen ruft

Und zerfließt in rauch'ge Luft.

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 2, Berlin 1914, S. 56-57.
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