Dritte Vorstellung.

[107] Durch die engen Gäßchen ging ich nun den Weg nach der eigentlichen Universitätsstadt hin.

Bald kam mir da zu Sinne, wie ich vor mehreren Jahren bei meiner Durchreise durch dieses Städtchen meinen Stock im Wirtshause zur salzsauren Schwererde hatte stehen lassen, und als ich dem so nachdachte, kam ein langer dürrer Kerl die Straße hergeschossen, ein großes Manuskript ragte ihm aus der Rocktasche. »Gottwillkomm!« schrie er mir entgegen, »erkennen Sie mich nicht mehr? Betrachten Sie mich recht!« Ich war wie vom Himmel gefallen, als ich in ihm meinen Stock erkannte. »Aber um Jesu willen!« sprach ich – ich wußte nicht, sollte ich ihn mit du, Sie oder Ihr anreden.

Zum Glücke fiel er mir in die Rede und erzählte mir, wie ihn ein Professor in der Ecke des Wirtshauses gefunden, wie unter den Händen dieses Mannes sein schlummernd Genie erwacht, wie derselbe Professor ihn in all seine Vorlesungen jahrelang mitgenommen; wie er gänzlich das Wissen seines Herrn, der ihn während des Lesens auch immer an den Mund zu legen pflegte, in sich gesogen; wie er nie ein Wort von den Vorlesungen, die alle über sein Haupt hingesprochen worden seien, verloren; wie er dann endlich, als er Kraft genug in sich gefühlt, aus der Ecke der Bibliothekstube des Professors sich geschlichen und hinter das Studium der Alten sich heimlich gemacht, es auch durch angestrengten hölzernen Fleiß so weit gebracht, daß er in dem Examen auf das allervortrefflichste bestanden, nun Rezensionen schreibe und als Doktor Legens auftrete.[107]

»Denken Sie nur,« sprach er weiter, »gestern begegnete mir der Italiener, der mich an Sie verkaufte. Sie hatten mich doch immer sehr gerne, das freut mich! – das waren Tage! – – ich sag' Ihnen, bei Gott! es waren doch selige Tage! o ihr Tage meiner Jugend!

In Ihrem Geigenkasten legten Sie mich immer nieder. Ja wahrhaftig! ille terrarum, midi praeter omnes angulus ridet – – doch. Sie verstehen nicht Latein, wie ich weiß – – meine Zuhörer – – Sie treten gewiß da nächst, in der salzsauren Schwererde ab, dahin folg' ich Ihnen in einer Stunde nach.«


Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 107-108.
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