Die Grille

[73] Eine Grille, namens Helene, zirpte vom 1. Juni bis 31. Juli (einundsechzig Tage) ununterbrochen, bis ihr der Stoff ausging. Darauf setzte sie sich ihren Kapotthut auf, hängte sich ihre altmodische Markttasche um und begab sich eiligst in die nächstgelegene Klein-bzw. Mittelstadt. Sie trat in ein Posamenteriewarengeschäft und sprach:

»Ich möchte siebentausend Meter Stoff.« Der gelbhaarige Kommis errötete bis in die Haarspitzen und klappte sein Mundwerk wie eine Unke verwundert auf und zu:

»Wie bitte?«

Bereitwillig wiederholte die Grille:

»Ich möchte siebentausend Meter Stoff«.

Der Kommis schwänzelte:

»Sieben-tausend Me-ter Stoff! Zu Diensten, gnädige Frau. Wir werden das Gewünschte durch einen Grossisten besorgen lassen. Darf ich fragen, welchen Stoff Sie benötigen?«[73]

»Siebentausend Meter Stoff«, sagte die Grille und bekam vor Aufregung einen grünen Kopf.

Der Kommis knabberte erregt an seinen Fingernägeln.

»Gnädige Frau,« flötete er, »darf ich fragen, von welchem Stoff?«

»Siebentausend Meter Stoff«, sagte die Grille.

Der Kommis wippte wie eine Spitzentänzerin auf seinen Zehen:

»Gnädige Frau, von welcher Art darf der Stoff sein: Seide? Voile? Leinen? Samt? Barchent? Wolle? Crêpe de Chine?«

»Stoff«, sagte die Grille.

Der Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie fiel schwer ächzend in einen Lehnstuhl. Ihr Kleid knackte in allen Nähten. Veitstänzerisch schwankte der Kommis. Sein Ruf klang hilfeheischend wie der Schrei des Nebelhornes in dunkler Nacht.

»Was für ein Stoff, gnädige Frau?«

»Stoff«, sagte die Grille, »einfach Stoff.«

Der Kommis bullerte:[74]

»Wozu benötigen Sie den Stoff, gnädige Frau?«

Die Grille raunzte ärgerlich:

»Wozu? Frage? Zum Zirpen natürlich...«

»Zum – Zirpen –?«

Der Kommis platzte wie ein aufgeblasener Frosch.

Das gab Stoff – für die Reporter – siebentausend Zeilen.

Die Grille ging leer aus.[75]

Quelle:
Klabund: Kunterbuntergang des Abendlandes. München 1922, S. 73-76.
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