Die Freundschafft

[99] eine Erzehlung.


An Herrn Gleim


Leander und Selin, zween Freunde, die

Verstand und Edelmuth und gleicher Trieb

Zur Tugend, fest verband, vertrauten sich,

Einst in Geschäften, dem treulosen Meer.

Die Winde wehten erst der Gegend zu,

Die schon die Reisenden im Geiste sahn;

Das Ufer floh, und bald erblickten sie

Rings um nur Luft und See. Das Firmament

War heiter und voll Glantz. Sie seegelten

In seinem Wiederschein geruhig fort,

Und nahten sich bereits der Reise Ziel,

Als schnell die Wellen sich empöreten.

Ein reißender Orcan erwacht und schlug

Das Schiff von seiner Bahn. Es scheiterte

Am Felsen. Jeder sucht den Tod zu fliehn;

Das kleinste Stück vom Schiff wird jetzt sein Schiff –

Den beyden Freunden ward ein Bret zu Theil;

Allein, es war zu leicht für seine Last.

Wir sincken, sprach Selin, das Bret erträgt

Uns beyde nicht, o Freund! Leb ewig wohl!

Du must erhalten seyn, an dir verliehrt

Das Wohl der Welt zu viel, und ohne dich

Wär mir das Leben doch nur eine Qvaal.

Nein, sprach Leander, nein, ich sterb o Freund! –

Allein Selin verließ zu schnell das Bret

Und übergab getrost dem naßen Grab

Der Waßerwogen sich. Die Vorsehung

Die über alles wacht, sah seine Treu

Und seine Großmuth an, und ließ das Meer

Ihm nicht zum Grabe seyn. Mitleidig trugs

Auf seinen Wellen ihn zum Ufer hin.

Er fand Leandern schon daselbst – O, wer[100]

Beschreibt die Regungen der Freude, die

Sie beyde fühlten! – Sie umarmten sich

Mit Zähren in dem Aug. Leander sprach:

O allzutreuer Freund, in was für Qvaal

Hat deine Freundschafft mich gestürtzt! Ich hab

Um dich des Todes Angst zehnfach gefühlt.

Was du thatst wolt ich thun, denn ohne dich

Wünscht ich das Leben nicht – Geliebtester

Was wär ich ohne dich! versetzt Selin;

Der Himmel sey gelobt, der dich mir schenkt!

Komm laß uns ihn, der uns vom Tod befreyt,

Verehren, und ihm ganz das Leben weyhn.

Sie knieten weinend an das Ufer hin

Und dankten dem, der sie errettete.

Und ihre Regung drang die Wolcken durch –

Leander theilte mit Selin, der arm

An Güthern und nur reich an Tugend war,

All seine Schätze, die Selin nur nahm

Weil sich sein Freund dadurch glückseelig pries.

Und Seegen kam auf sie und auf ihr Haus,

Und lange waren sie das Wohl der Welt.


Quelle:
Ewald Christian von Kleist: Sämtliche Werke. Stuttgart 1971, S. 99-101.
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