Der Engel am Grabe des Herrn

[10] Als still und kalt, mit sieben Todeswunden,

Der Herr in seinem Grabe lag; das Grab,

Als sollt es zehn lebendge Riesen fesseln,

In eine Felskluft schmetternd eingehauen;

Gewälzet, mit der Männer Kraft, verschloß

Ein Sandstein, der Bestechung taub, die Türe;

Rings war des Landvogts Siegel aufgedrückt:

Es hätte der Gedanke selber nicht

Der Höhle unbemerkt entschlüpfen können;

Und gleichwohl noch, als ob zu fürchten sei,

Es könn auch der Granitblock sich bekehren,

Ging eine Schar von Hütern auf und ab,

Und starrte nach des Siegels Bildern hin:

Da kamen, bei des Morgens Strahl,

Des ewgen Glaubens voll, die drei Marien her,

Zu sehn, ob Jesus noch darinnen sei:

Denn Er, versprochen hatt er ihnen,

Er werd am dritten Tage auferstehn.

Da nun die Fraun, die gläubigen, sich nahten

Der Grabeshöhle: was erblickten sie?

Die Hüter, die das Grab bewachen sollten,

Gestürzt, das Angesicht in Staub,

Wie Tote, um den Felsen lagen sie;

Der Stein war weit hinweggewälzt vom Eingang;

Und auf dem Rande saß, das Flügelpaar noch regend,

Ein Engel, wie der Blitz erscheint,

Und sein Gewand so weiß wie junger Schnee.

Da stürzten sie, wie Leichen, selbst, getroffen,

Zu Boden hin, und fühlten sich wie Staub,[10]

Und meinten, gleich im Glanze zu vergehn:

Doch er, er sprach, der Cherub: »Fürchtet nicht!

Ihr suchtet Jesum, den Gekreuzigten –

Der aber ist nicht hier, er ist erstanden:

Kommt her, und schaut die öde Stätte an.«

Und fuhr, als sie, mit hocherhobnen Händen,

Sprachlos die Grabesstätte leer erschaut,

In seiner hehren Milde also fort:

»Geht hin, ihr Fraun, und kündigt es nunmehr

Den Jüngern an, die er sich auserkoren,

Daß sie es allen Erdenvölkern lehren,

Und tun also, wie er getan«: und schwand.

Quelle:
Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, Band 1, München 1977, S. 10-11.
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