Zwanzigster Brief.

An den Herrn von Hohenau in Frankfurt am Mayn.

[168] ... den 8ten October 1771.


Kaum bin ich drey Stunden in dem Besitze Ihrer zuletzt an mich geschriebenen Zeilen, und schon schreibe ich wieder an Sie, theuerster, bester Freund meiner Seele! Ach! es ist die einzige Beschäftigung, der ich mich so von ganzem Herzen überlasse. Seitdem Sie aus meinen Armen gerissen sind, geniesse ich keinen frohen Augenblick, ausser wenn ich entweder Ihre Briefe erhalte, oder durch ein zärtliches Seelengespräch mich an Ihre Seite hinversetze – Und doch ist auch keine dieser Freuden ganz lauter, ganz vollkommen. Ihr letztes Blatt – darf ich es sagen, daß meine Zärtlichkeit nicht davon zufrieden ist? –[168] Sie schreiben so kurz, so eilfertig, und die Liebe macht so besorgt, so ängstlich – Ach Carl! Wenn Sie Ihre Charlotte vergessen könnten – Wenn neue Gegenstände fähig wären, Eindruck auf das Herz zu machen, an dessen ganzen einzigen Besitz die Ruhe meines Lebens unauflöslich geknüpft ist –

Vergieb, Geliebter! vergieb den bangen Zweifeln Deines Mädgens – Ich setze kein Mistrauen in Deine Redlichkeit, in Deine Treue – Nein! gewiß nicht! Aber wie, wenn unvermerkt mein Bild, das Du in Dein Herz aufnahmst, zu verlöschen anfienge, wenn meine Züge sich mit andern vermischten, von irgend einer jener artigen Frauen, welche Du auf Deiner Reise kennen lerntest, und die Du mir mit so viel Wärme lobst? –

Ich bin heute ausserordentlich zur Schwermuth gestimmt – Meiner Einbildungskraft drängen sich immer neue Bilder der Traurigkeit und des Jammers vor – Wenn ich[169] denke, daß noch so mancher Tag langsam dahinschleichen wird, bis zu den Augenblick unsres frohen Wiedersehens; daß mein Geliebter so manchem Unfalle ausgesetzt ist; daß jede Stunde mich weiter von ihm entfernt – Wo kann ich da Trost, wo Beruhigung finden, als in Deinen Briefen?

O! schreiben Sie bald wieder an Ihre Charlotte, mein Bester! Um unsrer Liebe willen, thun Sie es! Noch muß ich Sie bitten, Ihren nächsten Brief nach ... zu richten; Ich gehe auf dringende Einladung in einigen Tagen zu der Frau von Weckel. Diese gütige Freundinn glaubt, daß einige Zerstreuung meiner Gesundheit zuträglich seyn mögte. Wir wollen die Klagen über die Abwesenheit unsrer Freunde vereinigen, und das wird vielleicht meine Seele erleichtern.

Unsre Eltern sind jetzt leidlich wohl.[170]

Von meinem Bruder habe ich gestern einen Brief erhalten. Er ist, da nunmehr Cameralwissenschaften sein Hauptstudium seyn müssen, den 28sten voriges Monats auf den Harz gegangen, wo er, um einige Idee vom Bergwesen zu bekommen, ein halbes Jahr bleiben wird.

Es gefällt ihm sehr wohl dort. Die ersten Tage besahe er nur den Unterharz, und war über Nordheim nach Seesen gereiset, wo er einen Freund hat, einen treflichen muntren Mann, der, glaube ich, dort als Forstmeister steht.

Seesen macht ein kleines Städtgen aus, in welchem einige wackre Leute wohnen, welche ganz gesellig, theils unter sich, theils mit der Nachbarschaft leben. Von da gieng er auf einige Stunden nach Gandersheim, wo ein kleiner Hof der Aebtissinn (vom herzoglich-braunschweigischen Hause) ist. Dieser Ort gefiel ihm nicht sehr. Er hat auch die[171] alte grämliche Reichsstadt Goslar mit ihren verfallenen schwarzen Mauern gesehen.

Jetzt ist er in Zellerfeld, einer Stadt die mit Clausthal, wo so viel ich weiß die churfürstliche Direction ist, (denn die beyden braunschweig-lüneburgischen Häuser haben beyde Antheil am Harze) beynahe zusammenhängt. Hier kann er nicht genug beschreiben, wie gesellig die Leute leben; welche herrliche, wilde, romantische Gegenden er täglich sieht; wie der ehrwürdige Tannenwald so majestätische, malerische Scenen darbiethet; und wie freundlich das gemeine Volk, die Bergleute sind. Er glaubt überhaupt bemerkt zu haben, daß die Menschen in bergigten Gegenden, auch wenn sie noch so arm sind, sanftere Sitten, mehr Zutraulichkeit im Character führen.

Den größten Theil vom Jahre liegen die Spitzen der Gebürge voll Schnee. Auf dem Oberharze wächst wenig, und die armen Leute[172] tragen die Gartengewächse aus den untern Bergstädten auf dem Rücken hinauf. Vielleicht kömmt es von dieser Anstrengung, oder auch vom Wasser, daß man hier so viel Kröpfe wahrnimt.

Mein Bruder fährt täglich in die Gruben. Man nennt das Fahren, wenn man mit einem schmutzigen schwarzen Bergmannskittel, und einem Lämpgen in der Hand die Leitern hinunterklettert. Es muß sehr interessant seyn, so im Schooße der mütterlichen Erde, fern von allen Verderbnissen der Oberwelt, herumzuspazieren. Aber freylich, man spaziert nicht; Es sind nur enge, zum Theil sehr niedrige Gänge.

Als mir mein Bruder schrieb, war er im Begriff den ersten heitern Tag zu einer Reise auf den Blocksberg, oder Brocken, zu bestimmen. Er geht hier immer zu Fuße, denn die Wege sind zum Fahren und Reiten sehr unbequem.[173]

Es ist auf dem Harze weit kälter, aber doch eine reinere Luft, als in den Thälern, und da es nicht an Holze fehlt; so wird bey irgend kühlem Wetter ein geselliges Caminfeuer angezündet.

Meine Mutter ruft mich ab – Ich muß also schliessen, und hätte Ihnen noch so viel zu sagen, indeß ich die schöne Zeit mit meinem schalen Gewäsche über den Harz verschwendet habe – Ich ärgre mich über mich selbst –

Lebe wohl, einziger bester Freund meines Herzens! Vom frühen Morgen, bis wenn sich meine Augen zum Schlaf schliessen, beschäftigt das Andenken an Dich,


Deine

treue

Charlotte.[174]

Quelle:
Knigge, Adolph Freiherr von: Der Roman meines Lebens, in Briefen herausgegeben. 4 Teile, Teil 4, Riga 1781–1783, S. 168-175.
Lizenz:
Kategorien: