Der 1. Absatz.

Von dem Thau und Nebel.

[61] Das Thau ist ein subtiler Dampff / so in dem Lufft nächtlicher Weil durch ein gelinde Kälte zusammen gehet: in aller Frühe aber Tröpfflein Weiß unvermerckt sich herab lasset / und über die Kräuter und Pflantzen ausbreitet.1 Das Thau wird durch die Krafft deß Himmels oder des Monds / auch durch die Feuchtigkeit deß Sud-Winds in der untersten Region des Luffts gezeuget: Es macht die Erden fruchtbar / indem es die Kräuter und Pflantzen / welche durch die Sonnen-Hitz verbrennt und welck worden seynd / wiederum erfrischet / und gleichsam lebendig machet: und obwohlen es scheint / als wann dasselbe durch die Sonn gäntzlich wiederum aufgetrücknet und ausgesogen werde / so verbleibt dannoch die Krafft desselben in denen Gewächsen / die es feißt und Kräfftig macht. Das Thau fallet nur alsdann / wann der Lufft still /und haiter ist / und zwar mehrentheils auf nidrigen Orthen / nicht aber auf hohen Bergen / wo es trüb oder windig ist / dann da wird das subtile Thau leicht verhinderet oder zerstreuet. Es kühlet ab den erhitzten Lufft / und vertreibt oder minderet die Krafft der gifftigen Thieren; hingegen machet es fruchtbar und schwängeret gleichsam die Meer-Muscheln / daß sie die kostbare Perlein empfangen und gebähren: Es speiset und ernähret auch die junge Raben / da sie in ihren Nestern noch ungefidert seynd / und noch nicht schwartz. Wegen diesen herrlichen Eigenschafften kan das Morgen-Thau im sittlichen Verstand füglich auf die Gnad GOttes ausgedeutet werden.2 Dann erstlich kommt ja freylich diese kostbare Gaab / gleichwie das Morgen-Thau / von oben herab / nach Zeugnuß des H. Apostels Jacobi / von dem Vatter der Liechter / als dem Urheber alles Guten / der uns dieses unschätzbare Kleinod aus seiner himmlischen Schatz-Kammer zusendet: und gleichwie das Thau durch die Krafft des warmen Sud-Winds und Mitwürckung des Monds gezeuget / und der Erden ertheilt wird / also empfangen wir die Göttliche Gnad durch die Krafft des Heil. Geistes und Zuthun oder Vorbitt Mariä.3 Aber gleichwie der kalt und rauhe Nord-Wind das angenehme Thau vertreibt und zerstöhret / also bemühet sich der höllische Feind durch den hefftigen Wind der starcken Versuchungen und durch die Sünd das himmlische Gnaden-Thau von uns abzuwenden / oder aus unserem Hertzen / aus unserer Seel zu vertreiben. Ferners das natürliche Thau / wie gemeldet worden / erforderet / daß der Lufft still und ruhig seye / und auch das sittliche Thau der Gnaden erfordert ein haiteres von Sünden reines Gewissen /und ein ruhiges Hertz / welches befreyhet ist von unruhigem Welt-Getümmel. Wiederum das Materialische Thau fallt viel lieber auf die flache Felder oder in tieffe Thäler / als auf die Berg und Bühel / also auch[61] GOtt resistit Superbis, humilibus autem dat gratiam,4 widersetzt sich denen Hoffärtigen / denen Demüthigen aber gibt er Gnad.

Das Thau macht den Erdboden fett und fruchtbar /es erquickt und erfrischet die Erd-Gewächs: Eben also das Thau der Gnaden und des himmlischen Trosts macht die menschliche Seelen fruchtbar / es macht sie herfürbringen die häuffige Früchten der Buß und Tugend-Wercken / die Hertzen / welche von der Hitz der Begierlichkeit gleichsam verdorret und eingeschnurrt seynd / thut sie mit der Feuchtigkeit der Andacht und Tugend abkühlen / und erfrischen.5 Ja auch die junge Raben / ehe daß sie schwartze Federn bekommen / ich will sagen / die noch unschuldige Seelen / welche von der Sünd noch nicht verschwärtzet seynd / die werden von denen himmlischen Gaaben und Gnaden-Thau gespeiset und ernähret; dann gleichwie das Brod ein Speiß des Leibs ist / also ist die Gnad ein Speiß der Seelen. Die gifftige Thier aber / ich verstehe die böse Feind / werden durch das Göttliche Gnaden-Thau abgetrieben von den jenigen Seelen / die damit begossen seynd / also daß sie ihnen durchaus nicht schaden können. Absonderlich hat dises himmlische Thau eine kräfftige Würckung bey den jenigen Seelen / welche in der Einsamkeit als wie in einer Muschel oder Schalen verschlossen seynd; dann bey diesen thut es auskochen das edle Perlein der Reinigkeit und kostbare Edelgestein der raristen Tugenden. Ja eben auf solche Weiß / nemlich durch das Göttliche Gnaden-Thau /ich will sagen / durch die Gnad des Heil. Geists / welcher Mariam überschattet / ja gäntzlich übergossen hat / ist in ihr gezeuget worden das alleredleste und kostbarste Perlein Christus JEsus: auf welches sittliche Thau und Perlein die Alt-Vätter in der Vorhöll mit ihren hitzigen Begierden abgezielet haben / als sie so inbrünstig geseufftzet: Rorate cœli desuper, & nubes pluant justum:6 Ihr Himmel lasset den Thau herab fallen / und ihr Wolcken regnet den Gerechten. Dieses geistliche Gnaden-Thau hat auch verstanden der fromme Patriarch Isaac / als er seinem Sohn Jacob den Seegen ertheilet hat / sprechend: GOtt gebe dir von dem Thau des Himmels / und von der Feiste der Erden.7

Ubrigens / wann der obgemelte subtile Dampf im Lufft durch ein grössere Kälte etwas stärckers zusammen gehet / und schier weiß ist als wie ein Schnee /da gibt es einen Reiffen ab: daß also der Reiffen nichts anderes ist / als ein gefrornes Thau. Der Reiffen aber ist insgemein mehr schädlich als nutzlich; dann er verbrennt gleichsam die Blumen und Kräuter / die Pflantzen und Früchten / absonderlich wann sie noch zart / und in der Blühe seynd.8 Doch wird er bald widerum von der aufgehenden Sonnen verzehret. Derowegen ist der Reiffen gleich der eitlen Ehr und dem eitlen Wohlgefallen: massen die eitle Ehr die Blum und Früchten der Tugend und guten Wercken verbrennt und verderbt. Er benimmt ihnen den Glantz und den Werth / daß sie vor GOtt nicht mehr so schön und ihme gefällig seynd / auch nicht mehr so reichlich belohnt werden. Doch wann die Göttliche Gnaden-Sonn ihre Strahlen ergehen laßt / da vergeht dieser schädliche Reiffen / und die Tugendwerck werden mit Hindansetzung der eigenen / auf die Göttliche Ehr allein gerichtet etc.

Was den Nebel anbelangt / so wird er gleichfalls in dem Lufft aus wässerigen Dämpfen gezeugt.9 Dises aber geschieht auf zweyerley Weiß: Erstlich nach dem Regen / wann der mehrere Theil eines feuchten Wolcken schon zu Wasser worden ist / und das übrige /welches zu dünn ist für einen Regen / in dem untersten Theil des Luffts sich ausbreitet. Andertens /wann die Sonn oder ein anders Gestirn einige dickere und gröbere Erd-Dämpff aufziehet / welche aber wegen Schwachheit der Wärme nicht weiter als in die unterste Region des Luffts erhebt werden / und allda einen Nebel abgeben.[62]

Der Nebel ist insgemein dem Leib schädlich und ungesund / weil er von denen feuchten Erd-Dämpffen herkommt: er wird von unterschiedlichen mit unterschiedlichen Dingen verglichen.10 Meines Erachtens aber kan er im sittlichen Verstand füglich auf die eigene Lieb ausgedeutet werden / welche der Seel sehr schädlich und ungesund ist; weil sie aus einer Weichmüthigkeit und von der Sinnlichkeit entspringt / auch mancherley Kranckheiten der Seelen verursachet /indem sie zu den mehristen Sünd und Laster Anlaß gibet. Der Nebel verfinsteret den Lufft und verursachet / daß die Sonn mit ihren Strahlen uns nicht beleuchten kan. Eben also die eigene Lieb verfinsteret den Verstand / und machet / daß die Göttliche Gnaden-Sonn uns nicht erleuchtet / wie sie sonst thäte. Der materialische Nebel ist sowohl den Schiffenden auf dem Meer / als denen Reysenden auf dem Land beschwehrlich und verhinderlich / weilen sie vor ihm nicht sehen können / wo sie hingehen oder fahren sollen / ja sie werden offtermahl also durch den Nebel verführt und betrogen / daß sie ihren vorhabenden Endzweck oder Zihl nicht erreichen / sonder gar weit davon abweichen und verirren / oder gar zu Grund gehen in dem Meer / oder in einem Morast stecken bleiben auf dem Land. Auch der sittliche Nebel der eigenen Lieb ist sehr schädlich und verhinderlich denen Menschen / solang sie auf dem gefährlichen Meer diser Welt schiffen / oder auf der mühsamen Wanderschafft des zeitlichen Lebens sich befinden /dann er verblendet sie / daß sie gar nicht weit hinaus sehen / und bekümmert seynd / wie sie dem Leib und der Sinnlichkeit nach wohl und vergnügt leben mögen: mithin verfehlen sie gar leicht das sichere Gestad / den erwünschten Port der glückseeligen Ewigkeit / sie gehen in dem gefährlichen Welt-Meer zu Grund / oder versincken in einem Sumpff / in einer stinckenden Pfitzen des verbottenen Wollusts: und müssen mit spater Reu beklagen und sagen: Ergo erravimus à via veritatis etc.11 So seynd wir dann irrgangen von dem Weeg der Wahrheit / und das Liecht der Gerechtigkeit hat uns nicht geleuchtet / und die Sonn des Verstands ist uns nicht aufgangen: weilen wir nehmlich von dem dicken Nebel der eignen Lieb gäntzlich verblendet waren.

Hingegen ist der Nebel günstig und angenehm den Nacht-Dieben / denen Strassen-Räuberen und Feinden; dann sie können unter seiner Bedeckung sich verbergen und gehlingen die Wanders-Leuth überfallen / berauben / und ihre Dieb-Stähl verüben / gleichwie auch die Wölff bey dem Nebel in den Schaaf- Stall einschleichen. Ja ein gantze feindliche Armee kan zu Zeiten unter dem Favor eines dicken Nebels anrucken / und unvermerckt einem Lager / einer Stadt oder Vestung sich nähern. Ein gleiche Beschaffenheit hat es mit der eignen Lieb; dann indem dieselbe den Menschen verblendet / also daß er die Gefahren nicht vermercket / da thun sich die höllische Strassen-Rauber / die Feind seiner Seelen derselben bedienen / sie kommen ihm unversehens über den Halß / sie berauben ihne seiner geistlichen Schätz und Güthern / sie nehmen ihn gefangen / oder bringen ihn gar um das Leben der Gnad. Wie es unter tausend anderen der Heil. Augustinns vor seiner Bekehrung wohl erfahren hat / als welcher von ihm selbsten bekennt: Exhalabant nebulæ de limosa terra concupiscentiæ carnis & obfuscabant cor meum.12 Es stiegen auf die Nebel von der lettigen Erden der Begierlichkeit des Fleisches / und überzogen mein Hertz / mein Seel mit Finsternuß.

Ubrigens ist es von der Erfahrnuß bekannt / wann der Nebel aufsteiget / so gibt es trübes Wetter und Regen ab / wann er aber von der Sonnen untertrucket / und nicht hinauf gelassen / oder verzehret wird / da gibt es schön und helles Wetter. Ingleichem wann die eigne Lieb die Oberhand gewinnt / und über die Vernunfft Meister wird / da gibt es schlimm und trübes Wetter in dem Gewissen ab: wann sie aber durch die Liebe GOttes untertruckt[63] und überwunden wird / da ist ein schön und gutes Wetter / es scheint die göttliche Gnaden-Sonn in vollem Glantz. Endlichen gleichwie der Nebel / wo er aufgehet sich in die Weite ausbreitet / und gleichsam alles in Besitz nimmt / alles überziehet / die Fürstliche Lust-Gärtten und Palläst sowohl als die öde Felder und gemeine Bauren-Hütten / also die eigne Lieb breitet sich in alle Welt / bey allen Menschen aus / sie nimmt die Gemeine sowohl als die Herren ein / sie herrschet oder vielmehr tyrannisiret über alle. Ich sage tyrannisiret / dann die eigne Lieb kan billich genennt werden blandus Tyrannus ein gelimpfig und liebkosender Tyran oder Wütterich / der offentlich schmeichelt / und heimlich verwundet: sie führet in die Höhe / und stürtzet eben darum in die Tieffe. Ihre Zufriedenheit und Vergnügen zu finden nöthiget sie den Menschen tausenderley Unanständigkeiten zu begehen / Mühe und Arbeit auf sich zu nehmen / in die gröste Gefahren sich zu begeben. Zu diesem End thut sie auch alle Laster vermäntlen / und mit einem falschen Färblein der Tugend anstreichen. Die Hoffart nennet sie eine Ehrbarkeit / den Geitz ein Häußlichkeit / den Zorn und die Rach einen billichen Eyfer / den Fraß und Füllerey eine leibliche Nothdurfft / die fleischliche Wollüst eine Ergötzlichkeit /die Trägheit eine Ruhe / den Betrug eine Klugheit etc.

Die eigne Lieb ist ein reiche aber gifftige Bronn- Quell / aus welcher alles Ubel herfliesset; dann sie wird begleitet von der Eigensinnigkeit / und dem eignen Willen / der in das Verderben führet: derowegen billich in den Rechten beschlossen worden / daß niemand in seiner eignen Sach Richter seyn könne; weilen nehmlich die eigne Lieb verblendet und kein gesundes Urtheil fällen laßt.13

Der verderbte und sinnliche Mensch ist gleich einem Baum / der für sein Wurtzel hat die eigne Lieb / für den Stammen die Neigung zum Bösen / für die Aest lasterhaffte Gewohnheiten / und für die Früchten die sündige Gedancken / Wort und Werck.

Die eigne Lieb ist blind in ihren urtheilen / hochmüthig in den Ehren / angsthafftig in den Sorgen / unruhig in dem Argwohn / begierig in dem Einnehmen /sorgfältig in dem behalten / gesparsam in dem ausgeben / rachgierig in denen Unbilden / unbehutsam in dem erwählen / und also indem sie sich selber in allem unordentlich suchet / und ihren Nutzen zu schaffen vermeynt / schadet sie ihr selber am aller mehristen / wie Christus der HErr austrucklich im Evangelio bezeuget: Qui amat animam suam, perdet eam.14 Wer sein Seel lieb hat / wird sie verliehren / das ist / wer sich selber unordentlich liebt / ihme selber unzuläßige Ding zulasset / der thut sich selber zu Grund richten.

Quelle:
Kobolt, Willibald: Die Groß- und Kleine Welt, Natürlich-Sittlich- und Politischer Weiß zum Lust und Nutzen vorgestellt [...]. Augsburg 1738, S. 61-64.
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