Der 4. Absatz.

Von dem Geyer.

[422] Der Geyer ist ein grosser starcker / Raub-Vogel / zu Zeiten grösser als der Adler: Plinius will / der Geyer komme von dem Adler her (etwan als ein Bastart) dem er auch in vilem an der Gestalt gleichet / und villeicht deßwegen auch Geyer-Adler genennt wird.46 Er hat einige sonderbare fürtreffliche Eigenschafften / ab welchen ihme von der alten und blinden Heydenschafft eben so wohl als dem Adler Göttliche Ehren seynd erwiesen worden: In Welschland ware vor Zeiten hoch verbotten / disem Vogel etwas Leids zu[422] thun. Die alte Römer pflegten zu sagen: der Geyer seye der gerechtist- und unschuldigste unter den Raub-Vögeln; der Ursachen / weilen er kein lebendiges Thier verletze / und auch keine Früchten / noch was anders / so zu dem menschlichen Gebrauch dienet / esse / sondern nur mit dem todten Aas sich befriedige / welches er mit seinem überaus scharpfen Geruch auf viel 1000. Schritt weit / ja auch gar über das Meer riechet / wie Isidorus und der Heil. Thomas Aquin bezeugen. Auf was Weiß aber dises geschehen möge /ist unter den Gelehrten ein nicht geringer Streit. Die Geyer haben einen langen Hals / und seynd sehr gefräßig / schier immerdar hungerig: sie fliegen auch überaus hoch / aber so bald sie ein Aas auf der Erden ersehen / da schiessen sie schnell darauf herab. Deßwegen thun sie uns wohl die listige und witzige Menschen andeuten / welche gar weit hinaus sehen / alles durchgründen und gleich darauf seynd / wo sie vermeinen / daß ihnen etwas taugen thue. Dise Raub-Vögel pflegen sich gern aufzuhalten / wo eine Armee in dem Feld zu stehen kommt / weilen sie wohl vermercken / das es an einem solchen Ort viel Todten-Cörper und Aas von Menschen und Pferden abgebe: sonsten aber wohnen sie in den höchsten Bergen / und man findet gar selten ihre Junge und Nester.

Ubrigens seynd die Geyer wegen Grösse des Leibs langsam / schwer und träg in ihrer Bewegung / also daß sie sich nicht ohne Mühe von der Erden aufschwingen können / absonderlich / wann sie sich satt geessen haben: sie müssen 2. oder 3. mahl einen Schwung oder Anrang nemmen: und deßwegen werden sie zu Zeiten von den Jägern gefangen / ehe daß sie sich durch den Flug in die Höhe salviren können.

Durch den großfüßigen / unflätigen Geyer / der sich so gern bey dem todten Aas aufhaltet / und hart von der Erden aufschwingt / werden füglich angedeutet die irrdische fleischliche Menschen / die mit den sinnlichen Lastern der Geilheit / dem Fraß und Völlerey /dem Geitz und der Trägheit ergeben / und mithin also schwer oder beschwert seynd / daß sie hart von der Erden auffliegen / das ist / sich hart mit dem Hertzen und Gemüth zu GOtt und himmlischen Dingen aufschwingen mögen wegen dem Last ihrer bösen Neigungen / es braucht einen grossen Gewalt bey ihnen /daß sie sich über das irrdische erheben: und wann es auch endlich geschiehet / so begeben sie sich bald und leichter Dingen wiederum in die Tieffe herab / wann sie von irrdischen Freuden und Wollüsten angereitzt werden (als wie der Geyer / wann er von der Höhe ein Aas siehet / gleich darrauf herab schiesset) mithin werden sie leicht von dem höllischen Jäger verstrickt und gefangen / ehe daß sie sich mit dem Gemüth wiederum in die Höhe aufschwingen.47

Hingegen aber ist dises an den Geyeren zu loben /daß / wie man von ihnen schreibt / sie die mehriste Zeit mit Erzeugung und Auferziehung ihrer Jungen zubringen / und den grösten Fleiß / Mühe und Sorg darauf wenden / auch biß selbe genugsam erwachsen und gefiederet seynd / schier nie verlassen.48

Zu wünschen wäre es / daß die Christliche Elteren /die so höchstnothwendige Kinder-Zucht von disen Raub-Vöglen erlerneten! billichster mossen sollen sie sich von Hertzen schämen / daß sie bey weitem keinen so grossen Fleiß und Sorg auf die gute Sitten und Ehrbarkeit ihrer Kinder wenden / als wie die Geyer auf die Erziehung ihrer Jungen / sondern selbe so unachtsam und sorglos in bösen verführischen Gelegenheiten lassen umlauffen / als wann selbe sie nichts angiengen / sie weder zum Guten anhalten / noch das Böse abstraffen / ja von närrischer Kinder-Lieb verblendt offt gar nicht zugeben oder leiden wollen / daß ihre ungezogene und ausgelaßne Kinder von andern Leuthen / von Zucht und Lehrmeisteren recht gezogen / und wegen ihren begangnen Fehler und Verbrechen abgestrafft werden. O Schand und Thorheit an Catholischen Elteren! die gewiß bey vil Türcken / und Heyden nicht geduldet wurden! was grosse Verantwortung und schwere[423] Straff von GOtt haben solche Vätter und Mütter (wann sie doch den Nahmen eines Vatter oder Mutters verdienen) ja auch die Obrigkeiten / die es zulassen / zugewarten! zugeschweigen / daß offtermahl die Elteren selbst anstatt der nothwendigen Corection oder Abstraffung / anstatt der unterweisung in Gaubens-Sachen / der Anmahnung zur Tugend und Erbarkeit / ihren Kinderen selbst höchststräfflich mit gar bösen Exempel vorangehen / und durch Fluchen und Schwören / durch Zanck und Haderen / durch Vollsauffen / Ehrabschneiden / unverschämte Zotten und Possen reissen etc. ihren Kinderen zu eben solchen Lasteren gleichsam den Weeg zeigen / und den grösten Anlaß geben. Es kann kein Seegen GOttes seyn in einem Hauß oder in einer Gemeind / wo keine Kinder-Zucht ist: keine Pest ist so schädlich in einem Land / in einer Stadt oder Dorff / als der Muthwillen und die Ausgelassenheit der Kinder / wann selbe ungestrafft und unverbesseret bleibet / es kommen zum öffteren gantze Gemeinden deßwegen in den Untergang / und in das Verderben / weilen so böse Sitten und gewohnte Laster mit den Kinderen aufwachsen. Erschröcklich seynd die Donnerkeil / ich will sagen /die scharffe Sentenz und Betrohungen / mit welchen die Heil. Schrifft und Vätter wider solche heillose und gewissenlose Elteren ausbrechen: erschrecklich auch die Exemplen oder Straffen / mit welchen GOtt öffters auch sichbarlich auf dieser Welt die schwere Verabsaumung der Kinder-Zucht gestrafft hat. Ja neben dem ist es gewiß / daß vil tausend verdammte Kinder in der Höllen ihre gleichfalls verdammte Elteren auf ewig verfluchen / weilen sie ihnen in der Jugend so vil übersehen / und so vil Unrechts zugelassen haben /welches alles wohl zubedencken und zubehertzigen /ich alle Vätter und Mütter getreulich will ermahnet und inständig gebetten haben:

Ubrigens ist der Geyer ein fürsichtiger Vogel / der sich wohl in Obacht zunehmen weiß; dann er fliegt nicht alleinig / sondern wider die Gewohnheit der Raub-Vöglen in Gesellschaft mehrerer anderen /damit er nemlich desto sicherer seye von den Nachstellungen der Menschen und Thieren: er weiß auch gar wohl zu temporisiren und nach dem Wetter sich zuschicken; deßwegen wann er die bevorstehende grosse Kälte an einem Ort vermercket / verlaßt er dasselbige / und begibt sich zeitlich in ein wärmeres Land gleichwie die Storcken.49 Er ist ferners ein guter Hauß-Mann; dann wann er sich bey einem Aas satt geessen hat / da legt er das Ubrige auf die Seiten / und behalt es auf: wann es ihn aber auf ein neues hungert /komt er fleißig wieder dahin. Endlichen weiß er auch seiner Gesundheit zu pflegen / und sich zucuriren /wann er kranck ist. Solche Fürsichtigkeit des Geyers ist löblich und wohl würdig / daß wir Menschen ihr nachfolgen. Ja es thut uns die Heil. Schrifft selbsten hierzu anweisen; dann sie sagt von der Gesellschafft: Melius est duos esse simul quàm unum etc. væ soli, quia cum ceciderit, non habet sublevantem se etc.50 Es ist besser / daß zween beysammen seyen dann einer / dann die genüssen ihr Gesellschafft wohl: fallt ihr einer / so hillft ihm sein Gesell auf. Weh dem der allein ist / wann er fallt / da ist keiner /der ihm aufhelff. Einer mag übergewaltiget werden / aber zween mögen widerstehen. Von dem Winter aber sagt das Evangelium in sittlichem Verstand: Orate, ut fuga vestra non fiat in hyeme.51 Bettet / daß euer Flucht nicht geschehe im Winter: sondern vor der einfallenden Kälte. Ferners zu der Häußlichkeit werden wir angemahnet durch die Klugheit des Egyptischen Königs / des Josephs, der in den 7. feisten oder fruchtbahren Jahren das überflüßige Getrayd gesammlet und aufbehalten hat auf die 7. magere oder unfruchtbare Jahr.52 Da heißt es: kaufft in der Zeit / so habt ihr in der Noth. Endlich die Gesundheit der Seelen zubewahren / werden wir vilfältig in der H. Schrifft ermahnet: ja auch den Schein des[424] Bösen zufliehen. Ab omni specie mala abstinete vos.53 Sagt der Apostel.

Endlichen scheinet der Geyer auch ein guter und verständiger Politicus zu seyn: dann wann er hoch auffliegen will / da thut er sich nicht übereylen / den Flug nicht schnell und gehlingen vornehmen / sondern nach und nach / er thut gemeiniglich zuvor 3. mahl von der Erden aufhupfen / und gleichsam seine Kräfften probiren / ob er fortkommen möge / er geht gemächlich und bedachtsam darein: Endlichen aber wann er vermeint im Stand zu seyn / da begibt er sich im völligen Flug / er setzt ihn mit allen Kräften fort /und lasset nicht nach / biß daß er seinen Endzweck erreicht hat.54 Eben also soll ein guter Politicus, absonderlich ein grosser regirender Herr / wann er einen hohen Flug thun / das ist / ein hohes Concept, ein grosses Vorhaben ausführen will / da / sage ich / soll er sich nicht übereilen / sondern gemach und wohlbedacht in die Sach gehen / selbe öffters und wohl mit gutem Rath erwegen oder überlegen / und mit seinen Kräfften oder Vermögen abwegen; dann præcipitantia est Mater pœnitentiæ: die Ubereilung bringt spate Reu / die Bedachtsamkeit bringt reiffe und reichliche Früchten. Hingegen tardè incedens non facilè cespitat, der langsam geht / stolperet oder strauchlet nicht leicht. Aristoteles von den Sitten der Regenten redend sagt: Magnanimi motus tardus esse debet, vox gravis & locutio tarda. Die Bewegung / Stimm und Red eines großmüthigen solle langsam und gravitätisch seyn. Aber nicht nur in den Sitten / sondern auch / ja noch mehr / in ihrem Befelch und Decreten sollen die grosse regirende Herrn wohl bedacht und langsam seyn. Sehr löblich derowegen ist in den Kayserlichen Rechten jene Constitution gemacht worden / welche also lautet: Si vindicari in aliquo severiùs contra nostram consuetudinem pro causæ intuitu jusserimus, nolumus statim eos subire pœnam, aut excipere sententiam, sed per triginta dies super statu eorum, sors & fortuna eorum suspensa sit. Die Kayserliche Constitution will sagen / daß wann schon über einen Delinquenten wegen seines Verbrechens ein strenges Urtheil ergangen ist / so solle doch selbes nicht so leicht vollzogen / und die würckliche Straff vorgenommen werden / sondern man solle 30. Tag lang darmit verziehen / die Sach wohl und genugsam zu untersuchen: damit nemlichen niemand zu hart / oder ein Unrecht geschehe.

Die Spannische Monarchen rühmen sich / daß sie nichts füreilend / sondern alles langsam und wohlbedacht schliessen und abhandlen mit seiner rechten Maaß und Gewicht: dann / sagen sie / die Eilfertigkeit hat eine Gleichnuß mit der Unbehutsame und Vermessenheit / die Langsamkeit aber ist eine Gattung der klugen Fürsichtigkeit. Absonderlich findet diese Maxim, und politische Grunsatz in dem Kriegs-Wesen statt und Platz / wo gar bald etwas mit unersetzlichen Schaden übereilt oder übersehen ist. Es hat manchesmahl ein hitziger Hanibal aus Ubereilung auf einen Streich vil Land und Leuth verlohren / da hingegen ein klug- und behutsamer Fabius cunctando restituit rem, mit zuwarten und temperiren das Erworbne erhalten / oder das Verlohrne wiederum erworben hat: dann gleichwie die tobende Meer-Wellen sich an den stillen und unbeweglichen Felsen abstossen / und nach und nach zu Ruhe begeben und besänfftigen /wann man mit Langmuth ihnen zuwartet / als wann man so gleich mit allem Ernst und Gewalt sich widersetzet. Bald seynd auch grosse Sachen / und wichtige Dessein angefangen / aber nicht so leicht und glücklich ausgeführt: deßwegen gar weißlich der weise Seneca, als ein ausgemachter Politicus gesprochen hat: diu delibera, citò facito, berathschlage lang und wohl / alsdann beschleunige die Vollziehung. Nichtweniger / ja am allermeisten solle die Bedachtsamkeit und reiffe Berathschlagung in geistlichen Sachen in Obacht genommen werden. Der einen hohen Flug thun /das ist / auf das beschauliche Leben / in einen geistlichen[425] Ordens-Stand sich begeben will / oder auf die Seel-Sorg / zu einer geistlichen Würde / zu dem Ambt eines Vorstehers sich einlassen will / der solle nicht schnell und gehlingen dahin auffliegen / oder aufsteigen / sondern nach und nach / er solle zuvor seine Flügel / das ist / seine Kräfften / seinen Ernst und Eyfer wohl probiren / ob sie starck genug seyen / ihn zutragen / und über das Irrdische zu erheben.

Im Auffliegen ist zwar der Geyer / wie gemeldet worden / langsam und wohlbedacht / aber wann es auf den Raub losgehet / da besinnt er sich gar nicht lang /er schießt schnell auf ihn herab. Als einstens dieser gefräßige Raub-Vogel sich überessen / und den Magen beschwert hatte / auch sich deßwegen starck erbrechen muste / und die Speiß wiederum heraus geben / da hat er sich gegen einem anderen Vogel beklagt / und gesagt: er meyne / er müsse alles Ingeweid / auch die Lung und Leber heraus werffen. Aber nein /nein sagte der andere Vogel / du darffest dich nicht sorgen / es geht dir noch nichts von dem Deinigen hinweg / sondern was du heraus geben must / daß seynd nur lauter gestohlne Brocken von dem Aas /welches du jüngstens geraubt hast. Eben also kunte man manchem Ungerechten Geitzhals und Wucher sagen / wann er etwann von der Obrigkeit gezwungen wird / das ungerechte Gut wiederum heraus zugeben: förchte dir nicht / beklage dich nicht / daß dir etwas von dem Deinigen hinweggehe / es ist nur lauter fremdes / nur gestohlnes Gut / was du herauß speyen must. Es ist auch ein Gedicht der Poëten / daß Titius von den Götteren zu dieser Pein verdammt seye worden /daß er nemlich an einem Felsen in dem Meer solle angeschmidet bleiben / auch ihme alle Tag ein Geyer die Leber aus dem Leib reissen / und auffressen thue /selbe aber alle Nacht ihm auf ein neues wieder wachse.55 Aber in Warheit ist es / daß der Neid und Haß nicht nur die Leber / sondern das Hertz selbsten dem Menschen gleichsam abnage / und zerfresse / und dieses zwar so offt von neuem / als offt er die Wohlfart seines Nechsten mit mißgünstigen Augen ansihet.

Der H. Basilius machet dise Gleichnuß und sagt: sicut vultures per multa quidem prata amæna & odorifera transvolant, ad tabida autem & fœtulenta feruntur etc.56 Gleichwie die Geyer bey vil schönen und wohlriechenden Wiesen und Garten vorbey fliegen / ohne daß sie sich darbey aufhalten / oder ein Freud darob haben / hingegen wo sie ein faules Aas ersehen / da bleiben sie gern / und ergötzen sie sich /also geben die Neidige kein Achtung auf das / was gut und löblich / sondern nur was mangel- und tadelhafft an ihrem Neben-Menschen ist.

Quelle:
Kobolt, Willibald: Die Groß- und Kleine Welt, Natürlich-Sittlich- und Politischer Weiß zum Lust und Nutzen vorgestellt [...]. Augsburg 1738, S. 422-426.
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