94. Die Frau, welche erlöst sein will.
Mündlich aus dem Theerofen am Golm.

[99] In einem Dorfe unweit Lübbenau wohnte vor einiger Zeit ein Mädchen mit ihrem Bruder zusammen, die hörte mehrere Nächte hinter einander eine Stimme, welche ihr zurief, sie solle aufstehen. Da sie sich aber fürchtete, wagte sie das nicht und verkroch sich nur noch tiefer in ihren Betten. Doch immer lauter hörte sie die Stimme in den folgenden Nächten, so daß sie sich endlich ein Herz faßte, aufsah und eine Frau erblickte, die ihr sagte, sie solle mit ihr kommen und sie erlösen. Da stand sie auf und ging, ungeachtet der Bruder sie zurückzuhalten suchte, mit der Frau; dieser aber, dem nichts Gutes ahnte, folgte unbemerkt hinten nach, und so kamen sie in einen finstern unterirdischen Gang, in dem sie eine[99] lange Strecke fortgingen, bis sie endlich in einen hell erleuchteten Saal traten; hier saßen drei schwarze Männer an einem Tische und schrieben, und auf dem Tische lagen zwei blitzende Schwerter. Da sagte die Frau zu dem Mädchen: »Nimm eins von diesen Schwertern und schlage mir das Haupt ab, so bin ich erlöst!« Das Mädchen, das, seitdem es den ersten Schrecken überwunden, ihren Muth wiederbekommen hatte, nahm auch das Schwert und wollte eben den Streich führen, als ihr Bruder herbeistürzte, ihr in den Arm fiel und sie eiligst zurückriß. Nun stürzte aber die Frau wüthend auf das Mädchen zu, packte sie grimmig und warf sie so gewaltig zur Erde, daß sie augenblicklich zu Asche wurde; gleich darauf geschah ein fürchterlicher Knall und Alles war verschwunden.

Andere schweigen von dem letzten und erzählen, das Mädchen lebe noch, doch habe die Frau, als der Bruder seine Schwester zurückgerissen, zu ihr gesagt, sie solle nun, wenn sie zurückkomme, eine Linde pflanzen, die würde oben zwei Plantschen (Aeste) bekommen, aus deren Holze man eine Poie (Wiege) machen werde, und welches Kind zuerst darin liegen würde, das solle mit dem Schwert vom Leben zum Tode gebracht werden; dann aber werde sie erlöst sein.

Quelle:
Adalbert Kuhn: Märkische Sagen und Märchen nebst einem Anhange von Gebräuchen und Aberglauben. Berlin 1843, S. 99-100.
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