75. Schloß Lichterfelde.

Mündlich von der alten Krügerin zu Lichterfelde.

[72] In der Gegend von Lichterfelde bei Neustadt E.W. war in alten Zeiten nichts als Wald und die Kurfürsten[72] pflegten hier in der Umgegend gern zu jagen. Da hatte der Kurfürst auch einmal einen Oberjägermeister, der hieß Graf Sparr, und war von Spandow; der jagte denn hier auch öfter und pflegte auf seinen Jagden seine Tochter, die er sehr sorgfältig bewachte, mitzunehmen. Eines Tages kam er nun auch mit ihr in die Gegend, wo jetzt Lichterfelde liegt, da war ein freies Feld und die Tochter, die schon lange des Umherziehens im Walde müde war und sich auszuruhen wünschte, rief: »Ach lichtes Feld!« Da ließen sie sich nieder und dem Vater gefiel die Stelle so sehr, daß er hier ein Schloß baute, welches aus zwei Stockwerken bestand, aber keine Treppe hatte. In dem obersten derselben nun ließ er seine Tochter wohnen und was sie an Speise und sonst noch bedurfte, wurde in einem großen Korbe hinaufgewunden.

Nun war aber ein junger Graf in der Gegend, der soll Schemia oder so ähnlich geheißen haben, der hatte auch davon gehört, daß der alte Sparr seine Tochter so grausam eingesperrt halte, darum legte er sich auf die Lauer und wußte einmal die Gelegenheit abzupassen, wo der alte Sparr fortgeritten war, ging in's Schloß und ließ sich in dem Korbe hinaufwinden. Als er nun da oben ankam, freute sich die junge Gräfin nicht wenig, nach langer Zeit einmal wieder mit einem jungen Manne plaudern zu können, und sie kamen so hinein in's Erzählen und Kosen, daß sie gar nicht merkten, wie die Zeit herankam, wo ihr Vater zurückzukehren pflegte. Da hörten sie ihn plötzlich in den Schloßhof sprengen und nun war guter Rath theuer. In der Angst kam die Gräfin auf den Gedanken, den jungen Grafen eine schmale Leiter, die zum Bodenraum führte, hinaufsteigen zu laßen, damit er sich da verberge. Er war auch kaum hinauf, so gab Sparr unten das Zeichen, daß er hinaufgezogen sein wolle, und in wenigen Augenblicken war er[73] oben. Als er nun hier im Zimmer umherging, um zu sehen, ob alles in Ordnung sei, rief er plötzlich: »Ich riech', ich rieche Menschenfleisch!« und so viel die Tochter auch betheuern mochte, daß niemand da sei, er blieb bei seiner Behauptung, wurde nur immer heftiger und lief wüthend überall umher und suchte in allen Winkeln und Schränken; endlich wollte er auch die Leiter hinaufsteigen, aber in seinem Eifer verfehlte er eine Sproße, glitt aus, fiel hinab und brach ein Bein. Da lag er nun in jämmerlichem Zustande und konnte nicht aufstehen und ächzte und stöhnte, und die Gräfin war auch zu schwach, um ihn auf das Bett zu tragen, und es dauerte sie doch so sehr, daß der alte Mann so auf dem harten Boden liegen mußte. Da gestand sie ihm denn endlich, wer hier bei ihr sei und wo er sei, und der junge Graf mußte herunterkommen, half den Alten in's Bett bringen, sie verbanden den kranken Fuß und pflegten den Grafen so schön, daß er seinen Unmuth schwinden ließ und seine Einwilligung gab, daß sie ein Paar würden. Als er nun gesund war, richtete er die Hochzeit aus und ließ nun auch außen am Schloß ein neues Haus anbauen, in dem er eine Treppe zimmern ließ; und die steht noch bis auf den heutigen Tag und läuft wie eine Schnecke rund um immer höher hinauf bis unter's Dach.

Quelle:
Adalbert Kuhn / W. Schwartz: Norddeutsche Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg, Pommern, der Mark, Sachsen, Thüringen, Braunschweig, Hannover, Oldenburg und Westfalen. Leipzig 1848, S. 72-74.
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