16. Wie die Ziegen nach Heßen gekommen sind.

Hemer.

[250] In alten, alten Zeiten war das Heßenland mit großen Waldungen umgeben, in welchen viele Wölfe hausten. Manche Ziegenfamilie hat es versucht, in das Land einzudringen, aber alle sind von den blutgierigen Bestien zerrißen worden. Da zieht eines Tags ein schwaches Zicklein des Wegs gen Heßen. Kaum ist es im Walde, so tritt ihm auch schon ein Wolf entgegen und will es zerreißen. Da sagt das Zicklein in der Angst: »Meine Mutter kommt auch noch.« Der Wolf denkt: »Du willst dir den Appetit nicht verderben; die Mutter ist ein[250] beßerer Fraß für deinen hungerigen Magen.« Er läßt das Thierchen in Frieden ziehen. Bald nachher erscheint auch wirklich die Ziegenmutter. Schon will der Wolf sich über sie herwerfen, da spricht sie in ihrer Angst: »Ach, mein Mann kommt auch noch!« – »Halt!« denkt der Wolf, »der Mann ist größer und ein beßerer Fraß für dich; willst warten mit der Mahlzeit, bis der kommt.« Endlich kommt auch der Ziegenbock angezogen. Dem Wolfe lacht das Herz im Leibe, als er den stattlichen Kumpan sieht. Schon macht er sich zum Sprunge bereit, um ihn bei der Kehle zu faßen, da erregen zwei Stücke am Bocke seine Aufmerksamkeit: die Hörner und der Beutel: »Sag mir doch einmal, Bock«, spricht er, »was trägst du da für große Zacken auf dem Kopfe, und wozu dient dir der Beutel zwischen den Beinen?« – »Ih nun«, versetzt der Bock, »die Zacken sind ein Paar Pistolen, und in dem Beutel trage ich Pulver und Blei.« – »So!« sagt der Wolf ein wenig betroffen. In demselben Augenblick reibt der Bock, wie es seinesgleichen wol zu thun pflegen, das linke Horn an den Weichen. Da glaubt der Wolf, er lade, und ergreift die Flucht. Also ist die erste Ziegenfamilie glücklich ins Heßenland gekommen, und ihre Nachkommenschaft hat sich dermaßen ausgebreitet, daß Heßen mit seinem Ueberfluße alljährlich die Nachbarländer versorgt.

Quelle:
Adalbert Kuhn: Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen und einigen andern, besonders den angrenzenden Gegenden Norddeutschlands 1–2. Band 2, Leipzig 1859, S. 250-251.
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