6

[116] Immer häufiger wurden die Besuche und heimlichen Berichte, die der Fischer der Sonnenwirtin abstattete und für die er nicht nur manche Guttat aus Küche und Keller nach Hause trug, sondern auch das Versprechen erhielt, daß es ihm dereinst, wenn sie durch allfällige Ereignisse zur ausschließlichen Herrschaft im Hause gelangen würde, noch viel besser gehen solle. Denn wer hinderte sie zu hoffen, daß, wenn der einzige Sohn aus der Art schlüge und sich selbst um die Erbschaft betröge, sie durch ein Testament ihres Mannes, dem sie im Alter ziemlich weit nachstand, in die Führung der Wirtschaft eingesetzt werden könnte, zu welcher sie sich für tüchtiger erkannte als die beiden Tochtermänner, den Chirurgus und den Handelsmann.

Aber auch unter den Mitbürgern des jungen Mannes erregte das neue Leben, das ihm aufgegangen war, ein großes Gemurmel. Man konnte der Familie des Hirschbauern nichts vorwerfen als ihre Armut, allein diese Eigenschaft genügte, um den Umgang eines Wohlhabenden mit ihr für die öffentliche Meinung des Fleckens, und zumal in den Augen des städtisch gekleideten Teils desselben, höchst verwerflich zu machen. Gestern hatte man sie noch mit einer Mischung[116] von Mitleid und Geringschätzung arme Leute genannt, heute hieß man sie schon Gesindel, das mit Preisgebung der eigenen Ehre ein ungeratenes Früchtlein aus gutem Hause einziehe; und Friedrich selbst, dem man seine bisherigen Jugendstreiche beinahe so gut wie vergeben hatte, kam nun als Genosse dieser Verachtung nur um so schlimmer weg, indem man alles Vergangene auffrischte, um zu beweisen, daß er von jeher nur Zuneigung zu schlechtem Volke und Hang zu schlechten Streichen gehabt habe. Ihm wurde es als Verbrechen geachtet, daß er sich zu so geringen Leuten herunter gab; Christinen und den Ihrigen wurde es als Schimpf angerechnet, daß sie sich mit einem gewesenen Sträfling einließen, der doch so manchem, wenn er seine Neigung anderswohin gewendet haben würde, gut genug gewesen wäre. Das Gerücht von abermaliger übler Aufführung des jungen Sonnenwirtle drang bald zu der Frau Amtmännin, die es nach Kräften verbreitete und in den nächsten Tagen der Frau Pfarrerin, als diese auf einen Nachmittagsbesuch zu ihr kam, erzählte. Diese wußte es schon, obgleich nicht so vollständig wie die Frau Amtmännin. Beide Frauen ließen die Sonnenwirtin holen und empfingen sie mit einem Strom von wetteifernden Zurufen: »Denk Sie doch, Frau Sonnenwirtin« – und: »Ei, was denkt Sie denn, daß Sie Ihrem ungeratenen Sohn so freien Lauf läßt – Weiß Sie denn auch –? Das sollt Sie seinem Vater sagen, damit er dem Unfug ein Ende macht!« Die Sonnenwirtin, als sie endlich das Wort ergreifen konnte, versicherte zum[117] größten Verdruß der beiden vollgeladenen Erzählungshaubitzen mit Seufzen, daß sie von allem bereits vollständig unterrichtet sei; dem Vater, setzte sie kopfhängerisch hinzu, habe sie bisher nichts sagen mögen, teils um ihm einen so schweren Herzstoß, teils um dem Sohn, den sie vergebens in Güte herumzubringen gehofft, böse Tage zu ersparen; sie sehe aber wohl ein, daß sie endlich, obgleich ungern genug, den Mund auftun müsse. In diesem löblichen Vorsatze mit vereinten Kräften von ihnen bestärkt, ging sie in die ›Sonne‹ zurück und machte ihrem Manne die schon längst für eine passende Stunde aufgehobene Eröffnung, daß sein Sohn mit einem Lumpenmädchen, mit einem Bettelmensch sich in eine Liebschaft eingelassen habe. Sie hatte aber nicht den rechten Augenblick gewählt, denn der Sonnenwirt antwortete ganz trocken: »Das ist seine Sache, Jugend will vertoben, man kann nicht nach allen Mucken schlagen, die Kuh muß auch dran denken, daß sie selbst ein Kalb gewesen ist.« – »Ich weiß gar nicht, wie du mir vorkommst«, sagte die Sonnenwirtin, »man sollt ja meinen, du seiest in deiner Jugend ärger gewesen als der Herzog selbst.« Der Sonnenwirt lachte pfiffig vor sich hin, denn es ergötzte ihn, seine Frau an derartigen Vorstellungen, die sie ärgerten, kauen zu sehen; dann sagte er im Fortgehen: »Ich will ihm übrigens bei Gelegenheit ein wenig den Marsch machen, damit er nicht meint, es werde ihm durch die Finger gesehen; wenn's einmal Frühling ist, so kann man nicht alle Kräutlein hüten, aber man muß davor sein, daß nicht der[118] ganze Salat schießt; auch würd ich mich dafür bedanken, nachher einen Schaden zu haben und noch einen Spott dazu.« – Die Sonnenwirtin sah ihm, als sie allein war, mit starkem Kopfschütteln nach und sagte giftig hinter ihm drein: »Du mußt mir ein sauberes Kraut gewesen sein in deinem Frühling.« Sie brachte es auch mit wiederholten Vorstellungen nicht weiter, als daß der Alte einmal gegen seinen Sohn im Vorübergehen einige Worte hinwarf. »Sieh dich vor, du!« bemerkte er ihm, »du weißt, das Sprichwort sagt, an rußigen Kesseln wird man schwarz; wenn's zu Dummheiten kommt, so hoffe nicht, daß du an mir einen Helfer in der Not haben werdest.« Die Bemerkung war eine von denen, die keine Antwort verlangen, und Friedrich ließ sie auch unerwidert, denn er konnte sich wohl denken, daß er durch eine Darlegung seiner wahren Absicht den Vater nicht sonderlich begütigen, sondern eher einen Kampf mit ihm herbeiführen würde, den er solang als möglich hinauszuschieben gesonnen war. Übrigens schien das Sprichwort, das jener angeführt, seinen Inhalt an ihm bewähren zu wollen, denn Friedrich wurde um diese Zeit in einen verdrießlichen Handel verwickelt. Der obere Müller, der ohnehin nachgerade einen großen Haß auf ihn geworfen hatte, vermißte eines Morgens einen Bienenkorb. Es hing von der Person und den Verhältnissen des Täters ab, ob man diese Entwendung als eine Tat bübischen Mutwillens oder als einen gemeinen Diebstahl betrachten wollte. Der Verdacht fiel auf einen der Söhne des Hirschbauern, dessen Armut und[119] neuerliche Verrufenheit für die niedrigere Auffassung der jedenfalls unsauberen Handlung entschied, und es fanden sich Augenzeugen, welche an dem der Entdeckung vorhergegangenen Abend spät gesehen haben wollten, wie Friedrich auf der Brücke unweit der Mühle seinem Gesellen pfiff. Es konnte jedoch nichts bewiesen werden, und die Sache mußte beruhen bleiben; aber das Gerücht ruhte nicht, und die aus vorsichtiger Ferne geschleuderten Schimpfreden des Müllers gaben dem Verwerfungsurteil über die Wahl des jungen Mannes neue Nahrung. Dieser hat übrigens, als er zehn Jahre später über ganz andere Dinge die umfassendsten und rückhaltlosesten Bekenntnisse ablegte, jede Teilnahme an jenem verhältnismäßig geringen Vergehen standhaft in Abrede gezogen.

Die Sonnenwirtin würde zweifelsohne nicht unterlassen haben, von diesem Vorfall in täglichen und nächtlichen Gesprächen mit ihrem Manne erschöpfen den Gebrauch zu machen, allein sie mußte es bei einer kurz und hart hingeworfenen Mitteilung der Neuigkeit bewenden lassen, welche auf den Sonnenwirt diesmal einen beinahe nur oberflächlichen Eindruck machte, weil ihm selbst ein viel schlimmerer Handel auf den Hals gekommen war, infolgedessen zwischen den beiden Eheleuten wochenlang außer dem Nötigsten nur wenig, und auch dieses Wenige nicht in Güte gesprochen wurde. Gegen den Sonnenwirt hatte nämlich eine jener liebreichen Basen, die es überall gibt und die niemals reichlicher blühten als in der sogenannten guten alten Zeit, natürlich[120] nur aus den höchsten und reinsten Beweggründen, nichts Geringeres als eine Ehebruchsanzeige vor das geistliche Gericht gebracht. Die Denunziation war, ihrer Urheberschaft gemäß, von der Angabe zahlloser Einzelheiten und haarkleiner Umstände begleitet, so daß der an sich unwahrscheinliche Verdacht gegen einen Mann in den Sechzigen und eine zwar »rösche« (noch frische), aber wohlberufene Witwe, denn eine solche war der Mitgegenstand der Anklage, doch etwas Fleisch und Blut erhielt. Eine lange und widrige Untersuchung wurde eingeleitet, bei welcher eine Reihe von Zeugen erscheinen mußten, ohne daß jedoch der Bezicht zu jenem Grade erhärtet wurde, der das Gericht genötigt hätte, an eine Verschuldung zu glauben. Auch die beiden Angeklagten gestanden nicht das mindeste Verdächtige ein, und die Angeberin, da sie sah, daß sie ihre Klage nicht beweisen konnte, zog dieselbe zurück. Sie glaubte, mit einem Widerrufe davonzukommen, allein der Sonnenwirt verlangte für sich und seine mitangeklagte Gevatterin Satisfaktion, und so wurde sie wegen Lügens und falschen Denunzierens zu einer übrigens mäßigen Geldstrafe, in welche sich die Herrschaft (der Staat) und der »Heilige« teilten, sowie zur Abbitte verurteilt. Aus Rücksicht auf den dem Honoratiorentum verwandten Stand des Sonnenwirts wurde die Sache nicht auf dem Rathaus, sondern im Amthause verhandelt, auch in das Kirchenkonventsprotokoll nur ein kurzer Auszug aufgenommen und die Untersuchung selbst in einem Separatprotokoll niedergelegt, welches man jedoch,[121] um aller Verantwortung enthoben zu sein, an das Oberamt einsendete, wo sodann, da die Akten keine bestimmten Verdachtsgründe ergaben, die Angelegenheit ohne weitere Folgen liegen blieb. Wie es jedoch in allen solchen Fällen zu geschehen pflegt, so blieb genug davon an den Beteiligten hängen, und in der Sonne schienen die Flecken über den Glanz Meister zu werden, zumal die Geistlichkeit in ihrer Abneigung vor jedem Skandal das Monatskränzchen, das überhaupt nur unter einem sehr nachsichtigen Vorgesetzten im Wirtshause gehalten werden konnte, eingehen ließ. Denn der Spezialsuperintendent, dein sie untergeben war, stand seinerseits unter einem Konsistorialrat, der das im Evangelium erzählte Erscheinen seines obersten Kirchenherrn auf der Hochzeit zu Kana mit den Worten verurteilte: »Hätt's auch können bleiben lassen!« Unter allen Nachwehen aber, die den Sonnenwirt trafen, plagte ihn am empfindlichsten die Eifersucht seiner Frau; denn diese wollte ihn nicht freisprechen, wie die Konventsrichter ihn freigesprochen hatten. Ihr Schweigen und Trutzen veranlaßte ihn, sie geradezu zu fragen, ob sie denn etwas von der Verleumdung glaube; worauf sie seufzend erwiderte, sie stelle die Sache Gott anheim, der ins Verborgene sehe. Auf diese Weise wußte sie jedem unmittelbaren Wortwechsel auszuweichen, quälte aber ihren Mann teils durch finsteres Stillschweigen, teils durch abgebrochene Redensarten, die ihn von weitem her trafen und wehrlos stachen, weil er sie nach dem Wortlaut nicht auf sich beziehen mußte und doch dem Sinne[122] nach auf niemand anderes beziehen konnte. So erzählte sie ihm spöttisch, sein Sohn habe auch wieder einmal einen kleinen Verdruß gehabt, es sei nur schade, daß die Sache werde weltlich vom Amt allein abgemacht werden, denn wenn sie geistlich gerichtet würde, so könnte man immerhin hoffen, daß die Konventsherren ein Einsehen haben würden von wegen der Süßigkeit des Honigs; dann schimpfte sie auf den Hirschbauer und seinen Sohn und bemerkte dabei, der Apfel falle eben nicht weit vom Stamme, es sei gemeiniglich einer so liederlich wie der andere! Durch dieses Betragen, bei welchem die Leidenschaft ihr Salz dumm gemacht hatte, trieb sie den Vater auf die Seite des Sohnes und versäuerte ihm die Neigung, gegen etwaige Irrgänge desselben einzuschreiten. Friedrich hatte in dieser Widerwärtigkeit von Anfang an fest die Partei seines Vaters genommen. Zu Hause schwieg er über den kitzlichen Gegenstand, wie jedermann dort darüber schwieg. Auswärts aber wachte er über jedes Wort, das die Leute redeten, und wehe dem, der sich die geringste Anspielung erlaubte! Die Ohrfeigen und Püffe, die er, oft nur im Vorübergehen auf der Straße, austeilte, wurden sprichwörtlich; denn sein Eifer bedachte auch manchen Unschuldigen, der mit seiner Rede etwas ganz anderes gemeint hatte. Durch diese beständige Kriegsbereitschaft wurde die Zahl seiner Freunde nicht vermehrt. Sein Vater aber schien ihm, ohne jedoch viel mit Worten merken zu lassen, so gewogen, daß Friedrich oft dachte, er könne kaum eine günstigere Zeit finden,[123] um sich die väterliche Einwilligung zur Heirat mit der Tochter des Hirschbauers zu erbitten.

Vielleicht wäre sie ihm zuteil geworden und hätte den Wildbach seines Schicksals in ein fortan friedliches Bette geleitet. Doch wer kann dies sagen? Vielleicht wäre es auch dein Vater in dieser milden Stimmung gelungen, den Sohn, der guten Worten so zugänglich war, andern Sinnes zu machen, bevor er sich unwiderruflich gebunden hätte. Allein der Sonnenwirt berührte den Gegenstand nicht mehr, weil er nach seiner Sinnesart nicht daran dachte, daß es seinem Sohne mit dieser Liebschaft Ernst sei, und diesem fehlte immer noch die Hauptbedingung, die ihm die Zunge lösen konnte, nämlich das Jawort des Mädchens, das er liebte. Er hatte von der Erlaubnis, nach seinem Lamm zu sehen, möglichst fleißigen Gebrauch gemacht, er hatte Christinen durch Vermittlung ihrer Brüder, denen er das Geld dazu gab, in den Lichtkarz und auf den Tanzboden gebracht, er hatte keine Gelegenheit versäumt, mit ihr zusammenzutreffen, aber seine Wünsche waren noch weit von ihrem Ziel. Beim Heimgehen von einem Tanze, wo er sie begleitete und eine Strecke hinter ihren Brüdern blieb, flüsterte er ihr alles Liebe und Schmeichelnde zu, was ihm sein Herz zu dieser Stunde eingab; sie ging still und vor sich blickend neben ihm her, und als er heftig beteuerte, er müsse noch ihr Schatz werden, er tue es nicht anders, oder er gehe weit fort nach Amerika, antwortete sie lachend: »Mein Schatz, das kannst du schon sein, aber damit bin ich der deine noch nicht;[124] nach Amerika mußt aber nicht gehen, denn da geht niemand hin, der was recht's ist.« Mit einem Sprung war sie bei ihren Brüdern und neckte ihn, daß er so langsam nachkomme. Wie sie ihm aber an ihrem Hause gute Nacht sagte, traf sie ihn wieder mit einem Blicke, wovon ihm das Herz wirbelte. So hielt sie ihn, und ließ ihn doch nicht näher kommen. Wenn sie allein mit ihm war, benahm sie sich scheu, und vor den Leuten war sie schnippisch gegen ihn. Er sagte sich, daß sie als ein armes Mädchen gegen ihn, den Sohn wohlhabender Leute, die sie nicht mit günstigen Augen ansehen würden, doppelt auf ihre Freiheit zu halten berechtigt sei; deshalb ertrug er ihr Wesen mit ungewohnter Geduld und begnügte sich mit der halben Gunst, daß sie unter vier Augen du zu ihm sagte. Wenn er bei einer solchen Gelegenheit einen Kuß begehrte, so konnte sie ihm den Bescheid geben: »Ich will mich noch besinnen, bleibenlassen ist gut dafür.« Wurde er dringender, so sagte sie: »Soll ich mich zu meinem Schafknecht so heruntergeben?« und entsprang ihm lachend. Ihre Augen aber fuhren fort, das Gegenteil von ihren Worten zu reden, und dies gab ihm wieder eine Zuversichtlichkeit, die sie zu beleidigen und zu nur um so übermütigeren Zurückweisungen zu reizen schien. »Ja, ja, man darf nur knallen und ausfahren!« pflegte sie bei solchen Anlässen spöttisch zu sagen. Endlich aber erwachte der ungestüme Zorn in ihm, den er so lange gebändigt hatte. An einem sonnigen Dezembernachmittage kam er an ihrem Haus vorbei; sie hatte ihn den Fußweg kommen[125] sehen und stand hinter dem Hause, wo das freie Feld sich öffnete und die Berge der Alb herunterschauten. Er tat, als führe ihn der Weg nur so vorbei; denn er hatte sich aus Unmut ein paar Tage nicht blicken lassen. Als er sie sah, grüßte er und lud sie zum Mitgehen ein, sie schlug es ab, fragte aber, warum er »nirgends hinkomme«. »Bist brav?« fragte er dagegen. »Freilich!« erwiderte sie. »Gib mir einmal deine Hand«, sagte er. Sie ließ ihm die Hand, und er versuchte, ihr schnell und verstohlen einen Silberring an den Finger zu stecken. »Du tust mir ja so weh!« schrie sie, denn sie fühlte bloß einen Druck und Schmerz am Finger, ohne zu wissen, woher: »Wer wird einem auch so weh tun!« Indem sie sich sträubte und ihre Hand aus der seinen zu ziehen suchte, fiel das Ringlein zu Boden. »So!« sagte er in ausbrechendem Grimme, »ich hab's nicht hingeworfen, ich brauch's auch nicht aufzuheben, und wenn du nicht anders wirst, so kann meinetwegen der Handel zu Ende sein.« »Komm, Hansele!« rief Christine dem Lamme zu, das frei umherging und in diesem Augenblicke zu ihr gesprungen kam, »komm, dein Herr will dich mitnehmen, der Handel, sagt er, reue ihn.« Friedrich gab dem armen Tiere einen Stoß, daß es an die Wand flog, und ging ohne Abschied fort. »Bin ich mit dem Puff gemeint gewesen?« rief ihm Christine nach. Er hörte es nicht mehr, wenigstens gab er keine Antwort. Sie setzte sich zu dem Lämmchen, das jämmerlich schrie, auf den Boden, streichelte und untersuchte es; es hinkte ein wenig, hatte aber[126] sonst keinen Schaden genommen. Nachdem sie es beruhigt, suchte sie nach dem Ringlein, das sie bald im Grase fand; sie steckte es an den Finger und sah eine Weile seufzend hinter dem Trotzkopf her, dann zog sie es wieder ab und verbarg es sorgfältig an ihrer Brust.

Friedrich strafte sie mit achttägigem Wegbleiben. Es kam ein großer Markttag und mit ihm der letzte Tanz vor der geschlossenen Zeit, die von Weihnachten bis Neujahr dauert. Sonst hatte er immer dafür gesorgt, daß sein Mädchen zum Tanze kam; diesmal tat er keinen Schritt. Auch er war entschlossen, nicht hinzugehen; als er aber von weitem die bekannten Töne des Ländlers vernahm, spiegelte er sich vor, er wolle seinen Unmut vertanzen und vertrinken. Gesagt, getan; aber das erste, was ihm beim Eintritt in die Augen fiel, war Christine, die anscheinend sehr wohlgemut mit einem jungen Burschen tanzte. Er hätte laut aufschreien und dreinschlagen mögen, aber er bezwang sich und wählte schnell eine Tänzerin. Christinen zum Trotz tanzte er unaufhörlich, ohne sie ein einziges Mal aufzufordern. Aber auch sie blieb nicht verlassen sitzen, denn die Buben, wie man die jungen unverheirateten Männer nennt, kümmerten sich wenig um das, was man im Flecken über ihre Familie sprach, und hatten Wohlgefallen an ihrer Jugend und Schönheit. Sie war jedoch darauf bedacht, mit keinem zweimal nacheinander zu tanzen, und auch er wechselte seine Tänzerinnen fleißig, denn so gerne er ihr einen eifersüchtigen Verdruß bereitet haben würde, so[127] fand er doch keine, mit der er durch längeres Zusammenhalten in den Ruf einer Liebschaft hätte kommen wollen. Sonst hatte er, wie es bei verbundenen Paaren Sitte ist, nur mit ihr und sie nur mit ihm getanzt; heute machten sie jedes für sich die Runde durch die ganze junge Welt, soweit sie nicht verliebt oder verlobt, verbandelt oder verhandelt war. Einmal kamen sie beim Ausruhen nebeneinander zu stehen. »Tut's so?« fragte Christine freundlich und gelassen zu ihm herüber. »Ich mag mich nicht am Narrenseil herumführen lassen«, schnaubte er zu ihr hinüber und riß seine Tänzerin von neuem in die Reihe. Sein Herz kochte, das Tanzen war ihm entleidet, und er setzte sich zum Wein, den er mit Heftigkeit in sich goß. Gleichgültig und düster sah er von hier aus der Lustbarkeit der andern zu, oder vielmehr, er sah nur Christinen, die zwar keinem einzelnen besondere Gunst erwies, aber sich von jedem schön tun ließ und sich gar nicht um ihn zu kümmern und ihn durch ihre Munterkeit und ihr helles Lachen, das ihn unsäglich beleidigte, für seine Gleichgültigkeit strafen zu wollen schien. Da das Betragen der beiden allgemein auffiel, deren Vereinigung schon zu so vielem Geschwätz Anlaß gegeben hatte, so mußte er über die Trennung allerlei Bemerkungen und Neckereien hinnehmen, die ihn innerlich wütend machten, und der Abend würde ohne Zweifel, wie so oft auf dem Lande geschieht, mit Raufhändeln geendet haben, wenn die jungen Männer, die ihn um seiner Leutseligkeit willen liebten, sich nicht zu mäßigen gewußt[128] hätten und wenn nicht Christine, die sich ihrer Anziehungskraft vollkommen bewußt zu sein schien, plötzlich vom Tanzboden verschwunden wäre. Als er sie nicht, mehr sah, gab er zwar den Gedanken, ihr nachzugehen, mit stolzer Überwindung auf, aber die Lustbarkeit hatte allen Reiz für ihn verloren, und die eintönige Tanzmusik klang ihm wie ein ewig wiederkehrender Spott. Er blieb noch eine Weile in dumpfem Brüten sitzen, machte einige vergebliche Versuche, mit den Lustigen lustig zu sein, und entfernte sich dann, um einen schweren Kopf und ein noch schwereres Herz zur Ruhe zu legen.

Den andern Tag wurde er zum Pfarrer beschieden. Er zerbrach sich vergebens den Kopf, was die Ursache dieser Vorladung sein möge. Der Pfarrer, ein dürres kleines Männlein, kanzelte ihn heftig ab, daß er sich der Kinderlehre entziehe und dadurch so göttliche als fürstliche Gebote übertrete; bis ins vierundzwanzigste Jahr habe ein lediger Bursche die Kinder lehre zu besuchen, schärfte er ihm ein und eröffnete ihm, es sei vom löblichen Kirchenkonvent beschlossen worden, künftig strenger auf die Befolgung der Vorschrift zu halten und jedes Wegbleiben unnachsichtlich mit einem Sechser »in den Heiligen«, bei längerem verstockten Beharren aber sogar mit Einsperrung ins »Zuchthäuslen« zu bestrafen; wenn er sich wieder beigehen lasse, die Kinderlehre zu schwänzen, so werde er, der Pfarrer, ihn unfehlbar aufschreiben lassen und bei dem Herrn Amtmann und den Konventsrichtern den Fall zur Anzeige bringen. Damit hatte er seinen Bescheid und durfte[129] gehen. Kaum vermochte er sich zu halten, daß er nicht aufbrauste. Bei seinem Stolz und vollends in seiner jetzigen Stimmung konnte ihm nichts so quer in den Weg kommen, als die Zumutung, in seinem Alter, noch drei Jahre lang, zur Kinderlehre zu gehen und das tonlose Poltern des Pfarrers über die Rechtfertigung durch den Glauben anzuhören, während doch jetzt sein Dichten und Trachten darauf gerichtet war, durch die Liebe von allem. Übel erlöst zu werden. »Das kommt mir geschlichen!« sagte er zu sich, im Pfarrhofe noch einmal grimmig nach dem Fenster emporblickend, wo ihm gepredigt worden war. »Ebensogut hätt man mir die Rute andiktieren können, wenn ich noch ein Kind sein soll. Nun, ich geh eben nicht hin und zahl jedesmal die Straf. Freilich wird sich's damit auf die Länge nicht abtun lassen: wenn er einen verstockten Sünder in mir erkennt, so gibt's wieder eine Predigt, und zwar vorm Konvent, und dann legt sich auch der Amtmann drein. Man ist doch wie in einem Netz, aus dem man nicht herauskommt. Am besten wär's eben, ich kam schnell unter den Pantoffel; wenn's mit dem dummen Ledigsein aus ist, so hat das Kinderlehrgeläuf von selbst ein End.«

Hiermit war er in der Reihenfolge seiner Gedanken auf einen Gegenstand geraten, der ihm, so wie die Sachen zwischen ihm und Christinen standen, wenig Trost einflößen konnte.

Quelle:
Hermann Kurz: Der Sonnenwirt. Kirchheim / Teck 1980, S. 116-130.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Sonnenwirt
Der Sonnenwirt. Eine Schwäbische Volksgeschichte

Buchempfehlung

Knigge, Adolph Freiherr von

Über den Umgang mit Menschen

Über den Umgang mit Menschen

»Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum von ihnen fordern können. – Das heißt: Ein System, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind, muss dabei zum Grunde liegen.« Adolph Freiherr von Knigge

276 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon