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[141] Eben hatte er wieder seine Davidsharfe brummen lassen und eilte in schnellen Wendungen durch Zwischengäßchen vor den Wächtern davon; da führte ihn sein Weg an dem Bäckerhause vorbei, wo er[141] Christinen zuerst gesehen hatte. Er hörte lustige Stimmen hinter den Läden und blickte durch eine Spalte in die Stube, wo er seinen Invaliden und andere Bekannte am Wirtstische sitzen sah. Christine war nicht zu sehen, also konnte ihm sein trutziges Ehrgefühl den Eintritt nicht verwehren. Während er sich noch ein wenig besann, wo er das Gewehr unterbringen sollte, sah er in der schneehellen Nacht einen Mann nicht mit den sichersten Schritten daherkommen, in welchem er den Fleckenschützen erkannte. »Der hat schon einen Stich«, sagte er zu sich, »und will noch die Sicherheit des Orts bewachen; da wird's heut Nacht noch zum Durchbruch kommen; ich will ihm einstweilen eins aufspielen, damit er munter bleibt.« Er schlich sich auf die Seite und gab in der Geschwindigkeit seinem Gewehr eine verdoppelte Ladung; dann kam er leise hinter den Schützen herangeschlichen. Dieser hatte das Geräusch des Ladstocks gehört und lauschte vorgebeugt mit dem Finger an der Nase, ohne recht zu wissen, wohin er sich wenden solle; auf einmal tat es hart an seinem Ohr einen Knall, daß er der Länge nach mit der Nase in den Schnee fiel und sein dreieckiger Hut weit hinausflog. Im Nu hatte der Täter das Gewehr versteckt und saß drinnen in der Wirtsstube neben dem Invaliden, der ihn mit einem pfiffigen Blinzeln bewillkommte. »Nicht wahr, meine alte Lise ist noch gut bei Stimm?« flüsterte er ihm ins Ohr, »ich hab jeden Knall herausgehört, und bei jedem hat mir das Herz im Leib gelacht.« Dann fuhr er in einer angefangenen Geschichte vom[142] Prinzen Eugen zu erzählen fort, unter welchem er es bis zum Profosen gebracht hatte. Friedrich wußte seine Geschichten alle auswendig, versah ihn mit Wein und ließ ihn erzählen und unterhielt sich indessen leise mit dem uns schon bekannten Müllersknecht, der ihm seit jener Schilderung seiner Jugendbegegnisse eine Art von Bewunderung zollte, seine Bekanntschaft teils in der ›Sonne‹, teils an anderen Orten pflegte und auf den Haß seines Meisters gegen den mannhaften jungen Burschen so wenig Rücksicht nahm, daß er selbst durch den Verdacht des Müllers wegen des Bienendiebstahls, nachdem Friedrich ihm mit der aufrichtigsten Miene seine Unschuld versichert hatte, sich nicht im geringsten gegen ihn einnehmen ließ. Der Alte sollte jedoch seine Geschichte nicht zu Ende bringen, denn kaum war er durch Friedrichs Eintritt unterbrochen worden, so erhob sich eine neue Störung. Die Tür wurde heftig aufgestoßen, und der Schütz kam in einer bogenförmigen Linie hereingeschossen. »Da muß er herein sein, der Mordtäter, der mir nach dem Leben getrachtet hat!« schrie er, indem er die glühenden Augen von einem zum andern laufen ließ. Die ganze Gesellschaft versicherte, sich mit den Augen zuwinkend und durcheinander schreiend, hier sei niemand, der ihm etwas getan habe, und alles fragte, was ihm denn geschehen sei. Er erzählte sein Abenteuer, wobei er den Oberkörper wiegte und dann wieder einen Schritt vorwärts oder rückwärts geriet; dieses Schwanken wurde noch dadurch vermehrt, daß er in seiner ohnehin nicht festen Stellung[143] beständig argwöhnisch in der Gesellschaft umhersah, ob er nicht an irgendeinem Merkmal seinen Angreifer erkennen könne. Das Gelächter, die Spottreden und schalkhaft verkehrten Fragen der ergötzten Zechbrüder machten ihn noch wilder; er schimpfte und fluchte und bestand darauf, »hier oder wenigstens in der Nähe herum irgendwo müsse er versteckt sein, der keinnützig Lump, der sich sogar an seiner ihm von Gott vorgesetzten Obrigkeit vergreife.«

»Jetzt hast genug hasseliert, Schütz!« rief ein Mann mit verwogenem und zugleich verfallenem Gesicht, das den Ausdruck einer grämlichen Lustigkeit hatte und blutige Spuren trug, als ob es auf irgendeine Weise zerschunden oder zerkratzt worden wäre. »Komm, schwenk dir die Gurgel aus, hast dich ja ganz heiser geschrien. Hier hältst vor der unrechten Schmiede: von denen, die hier sitzen, ist seit mindestens einer Stunde keiner aus der Stube kommen. Bist aber auch ein rechter Leichtfuß, heißt das, du mußt nicht besonders fest auf den Füßen sein, daß dich ein blinder Schuß gleich zum Purzeln bringen kann. Da sieh den Profosen an, der ist ein anderer Kerl, den haben sie um einen Fuß kürzer gemacht, und doch steht er auf seine anderthalb anders hin als du auf deine zwei ganze. Den schmeißt keiner so leicht um, weder mit einer blindgeladenen Kanone noch mit einer scharfgeladenen Büttel. Laß das Hasselieren sein, sag ich, und komm her, ich bring dir's. Es vertreibt dir den Schnapsgeruch.«

Der Invalide, der an der Tischecke saß, hatte alsbald[144] zum Beweis für das Gesagte den Stelzfuß auf dem Tisch und trommelte damit nach Wein. Zugleich machte er Anstalt, seine Geschichte wieder aufzunehmen, aber es glückte ihm nicht.

»Dein gut's Wohlsein, Küblerfritz!« sagte der Schütz, das dargebotene Glas annehmend und auf einen Zug leerend, mit einer Mischung von Freundlichkeit und Spott, »es scheint, du machst jetzt Feuerkübel und verlegst dich aufs Löschen. Wünsch Glück dazu. Lösch aber nur zuerst den Brand in deinem eigenen Haus, du Mann im Feuerofen. Wiewohl, dein Feuerteufel, deine Margret, ist heut abgekühlt worden; sie hat ganz krumme Finger gehabt und hat laut geschnattert, wie ich sie wieder aus dem Häusle herausgelassen hab, wegen der großen Kälte ist sie nur auf ein paar Stunden dreingesprochen worden.«

»Was? ist dein Weib heut eingesperrt worden, Kübler?« fragte der Invalide.

Der Kübler nickte mürrisch. »Ihr wisset ja, wie sie ist und wie sie mein Mädle von meinem ersten Weib plagt und den Waisen, den ich aus dem Heiligen in der Kost hab. Zu dem sagt sie immer: ›Du Bettelhund! du Herrenhund! du schlappohriger Hund!‹ und schlägt ihn zwischen die Löffel, zwischen die am Kopf, mein ich, wenn er den Löffel in der Schüssel zu voll macht. Er ißt freilich schier mehr, als er einträgt, das Kostgeld ist so mager. Ihr könnt auch in meinem Gesicht sehen, wie sie mich diese Feiertage gezeichnet hat. Vor Weibernägeln ist auch der Stärkste nicht sicher. Ich hab sie aber durchgewalkt,[145] daß ihr die Knochen heut noch mürb davon sind, und hätt eigentlich keine Hilfe nötig gehabt vom Kirchenkonvent; ich kann gottlob allein mit ihr fertig werden.«

»Hat sie dich denn verklagt?«

»Nein, das läßt sie wohl bleiben. Der Pfarrer hat eben von irgendeiner guten Nachbarschaft gehört, daß es wieder einmal Händel bei uns gegeben hat, und hat dann die Sach vor Kirchenkonvent gebracht. Sie haben gemeint, sie müssen heut noch eine Sitzung halten, die Herren, und das ganze Kutterfaß vom alten Jahr ausleeren. Es sind noch viele vorgeladen gewesen.«

»Haben sie dich gestraft?«

»Nein, wiewohl ich die Schläg nicht abgeleugnet hab, aber meines Weibes Bosheit ist eben Gott und der Welt bekannt. Doch bin ich auch nicht ungerupft davongekommen. Sie hat über mich geklagt, ich sei ein Faulenzer und verdiene nichts ins Haus. Jetzt sagt selbst, ihr Mannen, ob das wahr ist?«

»Nein, nein!« riefen alle zusammen, »das kann man dir nicht nachsagen.«

»Ich weiß wohl«, fuhr der Kübler fort, »es geht knapp bei uns her, und Armut ist eine Haderkatz. Wenn man vollauf hat, so kommt man viel leichter miteinander im Frieden aus. Aber meine Schuld ist's nicht, wenn's manchmal sogar am Kreuzer fehlt. Mein Weib mit ihrem abscheulichen Fluchen, wegen dessen sie gestraft worden ist, und mit dem Spektakel, den sie immer mit meinem Kind hat, schreckt die Leut ab, daß sie nicht gern ins Haus[146] kommen und lieber ihr Sach woanders machen lassen. Aber man darf den Herren nur etwas an die Kunkel stecken, und wenn's eitel Alteweiberfäden wären, gleich machen sie ein Gespinst daraus. Mein Weib hat mit keinem Wörtle beweisen können, daß ich faul sei, und die Herren haben ihr eigentlich auch nicht geglaubt; und doch hat mir da der Pfarrer eine lange Predigt und Vermahnung geben, ich solle fleißig arbeiten, damit mein Weib keine Gelegenheit habe, über mich zu klagen. Ist das auch recht? Statt daß er mich in Schutz nimmt oder wenigstens meinem Weib aufgibt, sie solle beweisen, was sie wider mich sage, hilft er noch auf eine gewisse Art dazu, als ob das Geschwätz einen Grund hätt, und er weiß doch selber keinen.«

»Ja«, lachte Friedrich, »wer vor Kirchenkonvent kommt, kriegt immer eine Vermahnung auf den Weg und eine Salbung, wenn sie auch gar keine Heimat hat. Für was wären denn die Herren da?«

»Das Ding hat mich so erzürnt«, sagte der Kübler, »daß ich's gar nicht loswerden kann. Ich wär vielleicht heut abend zu Haus geblieben, denn ich hätt's wohl nötig, bin nicht mehr der lustig und durstig Küblerfritz, der ich in meinen ledigen Jahren und bei meinem ersten Weib gewesen bin. Aber der Pfarrer hat mir's angetan, der ist schuld, daß ich die Batzen in Wein aufgehen lass, anstatt zu sparen. Ich spür's in allen Gliedern, heut nacht muß noch ein Rausch getrunken sein. Juhu! Komm, Frieder, stoß mit mir an. Du bist auf eine Art auch im gleichen Spittel krank mit mir.«[147]

Friedrich stieß an. »Alle bösen Weiber sollen mit dem alten Jahr hinfahren!« rief er.

»Du bist übrigens heut noch nicht am schlecht'sten wegkommen, Kübler«, sagte der Schütz, der inzwischen, von dem Invaliden und dann von Friedrich gleichfalls mit einem Glase Wein begrüßt, sich am Tische seßhaft gemacht hatte, teils, weil es ihm bedünken mochte, hier sei's gut Hütten bauen, teils, weil er im Sitzen seine angehende Trunkenheit besser verbergen zu können glaubte. Dies gelang ihm auch, und er wurde sehr gesprächig, wobei er freilich zuweilen stark mit der Zunge anstieß, auch seine Amtsstimme über die Gebühr anstrengte, was jedoch auf dem Lande, wo jeder im Reden ein wenig schreit, nicht besonders aufzufallen pflegt. »Dem Küfer da drüben ist's nicht so gut gegangen«, fuhr er fort, »den werdet ihr heut abend noch nirgends gesehen haben.«

»Nein, er ist ein stiller Mann«, sagte der Bäcker, der sein Glas stehend am Ofen trank und seine Frau dann und wann ein wenig in der Bedienung ablöste; »man sieht ihn nie außerm Haus, als wenn ihn das Geschäft hinausführt, und am Fenster läßt er sich auch selten blicken. Er ist eingezogen, wie nicht leicht einer.«

»Absonderlich heut!« lachte der Schütz. »Da wär's eine Kunst für ihn, sich an seinem eigenen Fenster sehen zu lassen, und wo er jetzt ist, wird er freilich nicht gern ans Fenster gehen.«

»Was? Ich will nicht hoffen!« rief der Invalide.

»Ist er denn –«[148]

»Eingezogen, wie der Beck bereits gesagt hat.«

»Der Küfer ist eingesteckt?« riefen alle zusammen.

»Ach, er sitzt eben ein wenig bei mir im Hauszins«, sagte der Schütz, »und frieren tut's ihn nicht, denn ich hab ihm einen guten warmen Ofen gemacht; sonst tät er's nicht aushalten die vierundzwanzig Stunden im Turm.«

»Der Küfer im Turm!« rief alles. »Was hat er denn getan?« fragte der Bäcker. »Der tut ja keinem Hühnle weh und ist so ein ruhiger Mann, daß es viel ist, wenn man nur in der Nachbarschaft merkt, ob er zu Haus ist, oder nicht.«

»Was hat er gebosget?« fragte der Kübler.

»Er muß sein Weib doch sehr leis geschlagen haben, wenn Ihr nichts davon gehört habt, Beck«, sagte der Schütz.

»Ja was, so hab ich's nicht gemeint«, sagte der Bäcker; »natürlich, Stuß gibt's überall, auch in der stillsten Haushaltung.«

»Ein Weib prügeln, das ist doch keine so besondere Sach«, riefen die andern durcheinander. »Und die Küferin«, meinte einer, »hat's eben auch dann und wann nötig.«

»Die Weiber«, bemerkte der Bäcker, »müssen iebott (zuweilen) Streich han, sonst meinen sie, man hab sie nicht lieb.«

»Aha, Beckin«, riefen die Gäste, »hat er Euch seine Liebe auch schon bewiesen?«

»Nein, der Mein macht nur Spaß«, sagte sie, »mich hat er noch nie geschlagen.«[149]

»Und dessentwegen ist der Küfer in Turm kommen?« fragte der Müllerknecht.

»Bewahre!« antwortete der Schütz, »bloß vor Kirchenkonvent. Sein Schwäher, der Schneider, hat ihn beim Herrn Pfarrer verklagt, daß er, wie der Herr Pfarrer mir erzählt hat, sein Weib um nichtswürdiger Ursachen willen jämmerlich traktieret hab. Also hat mich der Herr Pfarrer zum Herrn Amtmann geschickt. Der hat aber gleich gesagt, da werde es etwas setzen, denn der Küfer sei zwar in seinem Handwerk fleißig und kein übler Haushälter, aber sonst ein eigensinniger, hartnäckiger Gesell. Es ging auch so, wie der Herr Amtmann gesagt hatte, denn obwohl man mich zweimal zu ihm schickte, denn ich muß eben alles ausrichten, weil der Herr Amtmann den Amtsknecht fast ganz ins Haus braucht, als seinen Leibdiener, so kam er doch nicht, so daß ich ihn zuletzt mit zwei Männern hab holen müssen. Das hat er aber wohlweislich vorausgesehen und sich ins Sternwirts Keller etwas zu schaffen gemacht, damit ihm der Spektakel nicht in seinem Haus über den Hals käm.«

»Und darum ist er in Turm kommen?« wiederholte der Müllerknecht.

»Nein, er hat dann böse Reden geführt, denn so still er sonst sein mag, so hat er vor Konvent das Maul weit aufgetan. Wie man ihm fürgehalten hat, warum er ungehorsam gewesen sei, hat er gesagt, er habe vor dem Kirchenkonvent nichts zu schaffen, es sei ihm solches ein Schimpf, sein Weib hab die Schläg nötig, der vorige Pfarrer und Amtmann[150] haben ihm selber gesagt, er solle sie nur schlagen, wenn sie's brauche. Wenn ihn der Herr Amtmann für sich zitiere zum weltlichen Amt, so komme er, und man brauche ihm nicht mit dem Holzschlägel zu winken, aber auf kirchenkonventliche Zitation komme er nicht, sonderlich, wenn man ihm den Büttel schicke – damit hatte er mich gemeint –; man solle ihm ein geschworen Weib schicken oder die Hebamme, das seien des Pfarrers seine Amtsboten.«

Alles lachte zusammen.

»Zuletzt ist's dann vollends faustdick kommen«, fuhr der Schütz fort. »Da hat er sich vernehmen lassen, es geh hier viel Unordnung vor, so nicht gestraft werd, der Pfarrer melier sich mit hiesigen Weibern, die Leute reden ihm viel nach. Ich hab vor der Tür nicht alles verstanden, denn vorher hat er ein wenig geschrien, das Schärfst aber hat er nicht mehr so laut gesagt, er wird gedacht haben, es schalle auch so noch deutlich in die Ohren. Den Herr Pfarrer aber hat man nachher verstehen können, der hat ihn angeschrauen, er sei ein liederlicher Gesell, was er denn von ihm sagen könne? Und man müsse die Sache ans löbliche Oberamt nach Göppingen berichten. Der Herr Amtmann aber hat ihn einstweilen in Turm sperren lassen.«

»Wenn er da bleiben muß, bis von Göppingen Bescheid kommt«, sagte Friedrich, »dann kann er lang sitzen.«

»Wird nicht so gefährlich sein«, sagte der Schütz, »er behält sein frei Logis ein Tag oder zwei, bis die[151] Sache ein wenig versaust ist, und dann darf er heraus und abwarten, was vom Oberamt kommt.«

»Was kann ihm denn blühen?« fragte der Müllerknecht.

»Ich wollt eine Wette drauf eingehen«, antwortete der erfahrene Diener der Obrigkeit, »er kriegt nicht mehr denn einen Ordinari-Frevel, und natürlich muß er deprezieren. In Göppingen sieht man eben drauf, daß es am Gehorsam und schuldigen Respekt nicht mankiert, aber auf das Geschwätzwerk selber läßt sich der Vogt nicht ein, er nimmt's nur so überhaupt, wie der Teufel die Bauern.«

Alle lachten über diese Bemerkung, welche besagen sollte, daß der Oberbeamte derlei Dinge in Bausch und Bogen abzumachen pflege.

»Vielleicht«, äußerte Friedrich, »denkt er auch, das Geschwätz habe einen Grund; denn um drei Gulden fünfzehn Kreuzer wär's billig geschimpft. Ist denn was dran? Ich hab doch nie gehört, daß man dem Pfarrer mit Weibsbildern etwas nachsagt.«

»Nein«, versetzte der Kübier, »das hat auch der Küfer nicht sagen wollen von dem alten Krattler. Aber das ist wahr, daß er sich Schwätzereien zutragen läßt von jeder Magd am Brunnen und von jedem bösen Weibermaul. Die stecken sich hinter die Pfarrerin und schleichen zu ihr in die Küche; von ihr erfährt's dann er, und auf die Art ist's eine beständige Spionerei im Flecken, durch die eine Menge nichtsnutziges, läppisches Zeug an die Obrigkeit gebracht wird und vieles, was eher der Müh wert wär, unbeachtet bleibt. So ist eigentlich die[152] Obrigkeit in der Gewalt von etlich bösen Zungen, denn der Pfarrer meint, er müss nach allem sehen, und weil er das nicht kann, auch überhaupt die Natur bei ihm zu kurz ist, so behilft er sich mit dem Geschwätz. Und der Amtmann, der läßt sich dann in jeden Lauf laden, aus dem einer schießen will, ohnehin, wenn der Pfarrer den Finger am Drücker hat oder auch die gestrenge Frau Amtmännin. Die andern Konventsmitglieder aber, die drinsitzen, sind der Garnichts, das weiß man ja. Dann braucht man nur bei den Herren was anzubringen, absonderlich, wenn man beim Pfarrer ein paar gottselige Redensarten mit unterlaufen läßt, dann sehen sie nicht auf die Sache selber, sondern, daß etwas angebracht ist, das ist ihnen der Hauptpunkt, und daraus machen sie dann ein Protokoll und ein Geschäft, wie wenn sie dabei gewesen wären und alles besser wüßten, als der, den's doch angeht.« – Mit diesen Worten reichte er sein Glas dem Schützen, der sich auch gleichmütig, während über seine Vorgesetzten losgezogen wurde, den Mund stopfen ließ.

»Zu was wären sie denn sonst da?« bemerkte Friedrich.

Der Invalide stieß ihn an und flüsterte: »Sei Er doch politisch und laß Er den Kübler allein das Maul brauchen. Der steckt in Schuhen, woran nichts mehr zu flicken ist. Aber Ihm könnt's Schaden bringen, denn der Schütz ist ein Kalfakter; er schmarotzt, soviel man ihm gibt, und nachher trägt er alles, was er dabei gehört hat, seinen Herren wieder zu.«[153]

»Was liegt mir dran?« entgegnete Friedrich trotzig.

»Und was ist denn noch mehr heut vorgekommen bei der Kirchenzensur?« fragte der Invalide den Schützen, um das Gespräch abzulenken.

»Oh, mehr als viel«, sagte dieser, »die Sitzung hat noch nie so lang gedauert, es ist mir ganz schwach worden vom langen Warten im Öhrn. Zuerst«, begann er mit einer Amtsmiene, »sind Kirchenstuhlstreitigkeiten unter den Weibern abgemacht worden; das ist ja ein stehender Artikel bei allen Konventssitzungen. Dann hat man junge Bursche vorgefordert, die aus der Kinderlehre weggeblieben sind, und hat sie mit Vermahnung wieder springen lassen.«

Friedrich biß sich auf die Lippen, sagte aber nichts, um nicht den Spott der Gesellschaft gegen sich herauszufordern.

»Dann hat man eine Separatistin fürgehabt, die in Jebenhausen drüben bei der gnädigen Frau in die Stund gangen ist.«

Der Gesellschaft war dies so gleichgültig, daß sie nicht einmal nach dem Namen fragte.

»Ferner hat man die alte Anna fürgenommen, die mit dem krummen Fuß, die mit ihren drei Waisen dreißig Kreuzer wöchentlich hat. Der ist fürgehalten worden, daß sie als ein altes baufälliges Weib gleichwohl etlichmal nach Zell hinunter in die Kirche gegangen sei, mit Verachtung des hiesigen Gottesdienstes, und habe sich deshalb die Bürgerschaft über sie beschwert.«

»Ja, die Bürgerschaft!« rief der Kübler. »Ein paar alte Weiber werden zum Pfarrer geloffen sein, und[154] vielleicht der Kreuzwirt, und werden ihm nach dem Maul geredt han.«

»Was ist ihr geschehen?« fragte der wohlwollende Invalide, in der Absicht, seinen Liebling nicht auch wieder in diesen Ton verfallen zu lassen.

»Sie hat sich verantwortet, sie hab's nur drei- oder viermal getan und sei sie allweg von andern Leuten hinuntergeschickt worden, weil sie eben unerachtet ihrer Gebrechlichkeit sehen müsse, wie sie etwas verdiene, und dann sei sie, um wenigstens das Wort Gottes zu hören, dort in die Kirche gegangen. Man hat dann beschlossen, daß man ihr von den dreißig Kreuzern, die sie aus dem Almosen hat, zehn nehmen und künftig nur noch zwanzig geben wolle, und ihr bedeutet, wenn sie ferner nach Zell in die Kirche gehe, so werde man ihr das Almosen gar nehmen. Sie hat mich gedauert, denn sie hat schrecklich geheult.«

»Predigt man denn in Zell ein anderes Wort Gottes als hier?« rief Friedrich, indem er wild mit der Faust auf den Tisch schlug. »Das ist doch überaus, wenn so ein – er besann sich vor dem Schützen einen Augenblick –, wenn so ein Pfarrer meint, man dürf keinen anderen hören als ihn, und nimmt einem armen alten Weib darum das Brot! Und was man in den Kirchen hört, das ist doch meistens nur um der Einkünfte willen gepredigt. Wenn sie's umsonst tun müßten, wie im Evangelium, und dem Volk noch Brot dazu geben, ei, wie geschwind stünden die Kanzeln leer.«

Ein Gemurmel durchlief die Gesellschaft; es schien[155] aber keinen Widerspruch anzudeuten. Der Invalide fragte schnell: »Was hat's noch weiter geben?« und schob sein Glas dem Schützen hin, der ihm bereitwillig Bescheid tat, ohne den rebellischen Reden sichtliche Aufmerksamkeit zu schenken.

»Allerlei Sabbatentheiligungen sind abgerügt worden«, fuhr er fort. »Einer ist am Sonntag ins Feld gangen, ein anderer hat gedroschen, und des Kühlers sein Bruder ist auch vorgewesen, der hat am Sonntag eine Bettlade angestrichen, und so noch andere mehr. Die sind ein jedweder um ein halb Pfund Heller in Heiligen gestraft worden.«

»Nächstens wird man am Sonntag nicht einmal mehr einen Bissen zu sich nehmen dürfen«, murrte Friedrich.

»Ja«, rief der Kühler, »du hast vielleicht gar nicht weit daran vorbeigeschossen, denn der Pfarrer in Hattenhofen drüben hat sich bereits verlauten lassen, man sollt eigentlich den Tag des Herrn mit Fasten zubringen.«

Die Gesellschaft lachte unwillig.

»Die Obrigkeit macht aber doch auch billige Ausnahmen«, sagte der Schütz zu Friedrich. »Wie Sein Vater verwichenes Jahr um Ostern angebracht worden ist, daß er am Sonntag mit einem Wagen Haber nacher Stuttgart gefahren sei, da ist ihm nichts geschehen, weil er sich hat verantworten können, der Haber gehöre der Herrschaft und habe zur Gottesdienstzeit in Stuttgart sein müssen.«

»Jawohl!« lachte Friedrich bitter, »wenn's für die Herrschaft ist, dann ist's keine Sund! Ich hab geglaubt,[156] vor Gott sei alles gleich. Aber der Herzog jagt auch am Sonntag, wenn's ihn ankommt, und fragt nach keinem Pfarrer nichts. Ich hab ihn selber schon am Sonntag hier durchreiten sehen.«

»Und letzten Sommer hat man Seinen Schwager auch entschuldigt, weil er an einem Sonntag Garben eingeführt hat, die von den wilden Schweinen übel zugerichtet gewesen sind. Da hat der Konvent ein Einsehen gehabt und hat judiziert, es sei ein Notwerk gewesen.«

»Ja, was!« sagte ein Bauer, »bei so fürnehme Leut hat man freilich ein Einsehen.«

»Ich will doch nicht hoffen«, rief ein anderer, »daß der Kirchenkonvent auch noch den wilden Säuen den Kopf heben sollt, die uns das Feld verderben und die beste Frucht wegfressen! Unsereins muß sich das ganze Jahr hindurch schinden und plagen, damit man in Stuttgart in Saus und Braus leben kann, und man sollt nicht einmal seine Frucht eintun dürfen, eh die Beester sie vollends ruiniert haben?«

»Man hat nicht bloß mit dem Sonnenwirt und solchen Leuten ein Einsehen«, bemerkte der Schütz dem vorigen Redner, »sondern auch mit dem gemeinen Mann. Wie im Heuet das Gewitter auf unsere Markung geschlagen hat, Göppingen zu, und ein Hochwasser zu befürchten gewesen ist, hat nicht da der Herr Amtmann am Sonntag früh ausschellen lassen, die Leute sollen und müssen ihr Heu sogleich heimtun, daß und damit es nicht vom Wasser fortgenommen werde?«[157]

»Ei, ich wollt, er hätt's draußen gelassen«, erwiderte der Angeredete, »das Wasser ist nicht stärker worden, wie man hat voraussehen können, und mit dem Heu hat man nachher seine liebe Not gehabt. Hätt man's liegenlassen dürfen, so wär's auf dem Feld trocken worden.«

»Das war dazumal«, sagte einer aus der Gesellschaft lachend, »wo der Blitz dem Käsbalthes sein Paar Ochsen erschlagen hat. Ich seh ihn noch immer, wie er dagestanden ist und eine Faust gegen den Himmel gemacht und geschrien hat: ›Jetzt soll aber auch unserm Herrgott sein bestes Paar Engel verr–.‹«

Ein schallendes Gelächter folgte auf diese Erzählung. »Das dürft auch nicht beim Kirchenkonvent vorkommen«, bemerkte einer.

»Ei, so schlag!« rief der Müllerknecht, immer von neuem in Lachen ausbrechend und das verpönte Wort in unschuldigerer Wendung wiederholend: »so, unserm Herrgott soll sein bestes Paar Engel kapores gehn?«

»Ja, und dem Herzog sein schönstes Paar Tänzerinnen!« knirschte der Kübler, indem er das Glas auf den Tisch stieß.

In der Wirtsstube wurde es plötzlich so still, daß man eine Fliege summen hörte, die sich in der Tag und Nacht gleichen Wärme des Bäckerhauses lebendig erhalten hatte.

»Oh, daß ich könnte ein Schloß an meinen Mund legen und ein fest Siegel auf mein Maul drücken!« sagte die Bäckerin mit biblischer Betonung.[158]

»Was!« rief der Kühler wild, »ist denn eine zerbrochene Fensterscheib in der Stub, daß man seine Wort hüten muß?«

Friedrich sah unwillkürlich nach dem Schützen hin.

»Vor Kirchenkonvent wenigstens dürft so etwas nicht bekannt werden«, sagte der Müllerknecht, der soeben noch eine Verwünschung der Engel Gottes weit minder verfänglich gefunden hatte als einen Fluch über die Tänzerinnen des Herzogs.

Der Schütz, dem der Blick des jungen Burschen nicht entgangen war, versetzte: »Ich denk, der Herr Amtmann und der Herr Pfarrer werden froh sein, wenn sie nichts davon erfahren. Es ist besser, eine solche unverständige Red bleibt in der Gemeind, denn wenn sie weiter käm, so könnt sie einen an Leib und Seel zeitlebens unglücklich machen.«

Der Kübler, dem der Wein mehr und mehr in den Kopf stieg, brummte einiges dagegen, und der Schütz, etwas steif von Trunkenheit und Autoritätsbewußtsein, schien nicht geneigt, ihm eine Antwort schuldig zu bleiben, so daß der Invalide sich abermals ins Mittel legen zu müssen meinte. »Ich hab die Kirchenkonventsgeschichten satt bis oben herauf«, sagte er leise zu Friedrich, »und doch weiß ich dem Kerl das Maul nicht anders zu stopfen, denn daß ich ihn aus der Schul schwatzen laß; das kitzelt seinen Hochmut.« Und zum drittenmal fragte er ihn, »was sonst noch verhandelt worden sei«. »Ein Husarentanz«, sagte der Schütz.

»Was?« riefen die andern und sperrten Maul und Augen auf.[159]

»Die Konventsherren werden doch nicht getanzt haben«, sagte der Müllerknecht.

»Dummes Geschwätz!« entgegnete der Schütz. »Dem Herrn Amtmann war angezeigt worden, daß in einem Lichtkarz bei der kropfigen Lisabeth Kuchen gegessen worden seien und daß des Xanders Bäsle, die bei ihm dient, den Husarentanz dabei getanzt habe, wobei auch ledige Bursche zugegen gewesen seien. Die Tänzerin und die Lisabeth, weil die den Karz ohne Erlaubnis gehalten, sind jede ein paar Stunden ins Häusle gesprochen und mit einem Weiberfrevel gestraft worden, und von dem Weibsgeziefer, das im Karz Kuchen gessen hat, ist jede um elf Kreuzer gestraft worden, so auch der Beck, der neben der Lisabeth wohnt und die Kuchen backen hat.«

Friedrich horchte hoch auf: dies war der Karz, in welchen Christine durch seine Vermittlung eingeführt worden war. Er hütete sich aber wohl zu fragen, ob Christine unter den Gestraften gewesen sei.

»Der Husarentanz?« fragte der Müllerknecht, »was ist denn das für ein Tanz?«

»Kein besonders anständiger«, antwortete ihm Friedrich.

»Der Husarentanz«, sagte der Schütz, »nun, das ist eben der Husarentanz. Wer wird denn den nicht kennen?«

»Der Schütz«, rief der Kübler, »stellt sich doch, als ob er alles wüßt! Ich bin euch gut dafür, daß er ihn selber nicht kennt.«[160]

»Was, ich?« erwiderte der Schütz und richtete sich stolz empor, »ich soll ihn nicht kennen?«

»Nein, ich wett, was du willst.«

»Ein Flasch Wein!«

»Eingeschlagen!«

Und ohne an seine Amtswürde zu denken, sprang der Schütz vom Stuhl auf, setzte den Hut verkehrt auf den Kopf, nahm die Rockzipfel zwischen die Zähne und führte einen seltsamen Tanz mit plumpen Sprüngen auf, die sich um so abscheulicher ausnahmen, da er im wachsenden Rausche seines Körpers nicht mehr mächtig war. Wenn das Mädchen, von dem er erzählte, nur zum zehnten Teil so häßlich getanzt hatte, so hatte Friedrich mit seiner Bezeichnung vollauf recht gehabt. Die Gesellschaft brüllte vor Lachen, aber in den Augen der Männer malte sich zugleich die Verachtung, welche die Bäckerin noch deutlicher ausdrückte, indem sie, ohne lachen zu können, mitleidig nach dem Lustigmacher hinsah. »Da tanzt unsere Obrigkeit!« sagte der Kübler.

»So, das ist der Husarentanz!« keuchte der Schütz, indem er atemlos auf seinen Stuhl zurückfiel. »Jetzt eine Halbe dem Küblerfritz!«

Das Gelächter dauerte noch lange fort, während er sich schon den Preis seiner Schaustellung schmecken ließ. Er wurde mit zweideutigen und spöttischen Lobsprüchen überschüttet, und der Invalide sagte ihm, er sollte sich beim Ballett in Stuttgart anstellen lassen, da würde er am besten hintaugen.

Diese Aufnahme seiner künstlerischen Produktion[161] machte ihn wieder ein wenig nüchtern. »Aber das Schönste hab ich noch gar nicht erzählt!« rief er, um den ihm allmählich klar werdenden Eindruck des Possenspiels, das er soeben aufgeführt hatte, zu verwischen. »Ein Hexenprozeß ist heut noch zu guter Letzt verhandelt worden!«

»Ein Hexenprozeß? Was? Wird wieder einmal eine Hex verbrennt?«

»Nein, dazu bietet die Obrigkeit nimmermehr die Hand. Aber doch ist's ein Hexenprozeß gewesen, und das ein saftiger. Ich hab schon gemeint, die Sitzung geh zu End, die Herren haben nur noch ein wenig von wegen der Kirche und Schule diskuriert – der Wetterhahn ist lahm worden, und die Schulmeisterin will eine Küche und mag sich nicht mehr mit dem schlechten Verschlag zum Kochen behelfen – da kommt auf einmal der Franzos den Gang herangestiegen, wie ein welscher Hahn, und den Hut hat er ganz schief aufgehabt, so daß ich gleich gedacht hab, da sei bös Wetter im Anzug.«

»Wer ist der Franzos?« fragte der Müllerknecht.

»Man heißt ihn so, weil er ein Jahr im Elsaß das Sattlerhandwerk gelernt hat und davon ein wenig welscht. Er hat eine Hammelayin zum Weib. Ich hab ihn gleich müssen bei Konvent anmelden, und weil ich neugierig gewesen bin, hab ich die Tür ein wenig offengelassen. Da hat er schrecklich getan und immer mit den Händen dazu gefochten und hat den Schmiedhannes verklagt, daß er heut in Gegenwart des ganzen löblichen Magistrats, just vor der Konventssitzung, in einem Streit wegen eines[162] Gartenzaunes die Hammelayischen insgesamt Hexen gescholten habe. Das sei ein Schimpf und eine Schande für ihn und seine Gefreund'ten, und er klage im Namen der ganzen Hammelayischen Familie, man möchte den Schmied zur gebührenden Strafe ziehen und ihm eine christliche Abbitte auferlegen. Ich hab gleich den Schmiedehannes holen müssen, und der hat auch ohne weiteres bekannt, daß er diese Rede vor gesessenem Gericht ausgestoßen hab, und es sei wahr, er bleibe dabei, denn die alte Hammelayin sei ihm schon vor fünf Jahren einmal in aller Früh ohne Haub im Hemd und Rock begegnet, hab auch eine schwarze Katz bei sich gehabt, die so groß als ein Kalb gewesen sei. Der Herr Amtmann hat ihm drauf die Sach ausreden wollen, er hab vielleicht einen starken Morgenschnaps getrunken gehabt und die Katz durch eine zu große Brill angesehen. Er aber ist dabei beharrt, daß er keinen Rausch gehabt habe, und wie ihm der Herr Amtmann zugesetzt hat, so ist er zornig worden und hat sich verschworen, der Teufel solle ihn zu Sägmehl verreißen, wenn er weiter als für sechs Kreuzer getrunken gehabt hab. Auf das ist der Herr Pfarrer aufgefahren, und der Herr Amtmann hat ihm gleich zwei Pfund Heller andiktiert, weil er sich mit Fluchen vermessen hab, absonderlich in Gegenwart des Herrn Pfarrers. Das hat ihn denn etwas mürber gemacht, und endlich hat er sich zureden lassen, daß er den Hammelayischen solche Gottlosigkeiten nicht beweisen könne, sondern aus Zorn und Unverstand gered't hab. Er hat dann dem[163] Franzosen für die Hammelayischen Abbitte tun müssen und ist als ein schlecht bemittelter Mann, den die zwei Pfund Heller schon sauer ankommen, auf zweimal vierundzwanzig Stund in Turn gesprochen worden, heißt das, erst wenn das Quartier vom Küfer frei wird.«

»So was muß man eben auch nicht auf seine Nebenmenschen bringen, wenn man's nicht beweisen kann«, bemerkte der Müllerknecht, »das ist doch das Allerärgste, was man einem nachsagen kann.«

»Die Obrigkeit nimmt ja so etwas gar nicht mehr an«, sagte einer der Bauern, die in der Gesellschaft saßen, verdrießlich. »Da können alle Greuel geschehen, man fragt nichts darnach, und wenn einer das Maul drüber auftut, so wird er noch gestraft. Die Herren glauben's nicht oder tun wenigstens so, und man sagt, auch der Herzog hab's nicht gern. Wer weiß, was dabei im Spiel ist, daß man dem Teufel so den freien Lauf läßt. Vorzeiten ist das anders gewesen.«

»Also wenn's nach Euch ging«, sagte Friedrich, »so müßt man die alten Weiber wieder schwemmen und an der Leiter aufziehen und verbrennen. Saubere Zeiten sind das gewesen! Wenn ich irgend etwas an der Obrigkeit lob, so ist es das, daß sie solchem dummen Geschwätz kein Gehör mehr gibt.«

»Was?« schrien die in der Gesellschaft anwesenden Bauern zusammen, »das soll dummes Geschwätz sein? Heißt's nicht in der Bibel: ›Die Zauberer und Greulichen sollst du mit Feuer verbrennen?‹ Und das soll ein dummes Geschwätz sein? Soll's denn[164] keinen Teufel mehr geben? Wer das nicht glaubt, der glaubt auch nicht an die Ewigkeit und glaubt nicht, daß es selige und verdammte Geister gibt.«

»Ich hab wenigstens noch keinen gesehen«, bemerkte Friedrich kalt.

»Der glaubt gar nichts!« rief einer, und die anderen sahen den Gegenstand dieses Verwerfungsurteils mit einem gewissen Abscheu an.

»Oder«, sagte ein anderer, »ist er vielleicht –? Ich weiß nur nicht, wie ich's angreifen soll, denn man wird ja gleich gestraft, wenn man seine Wort nicht auf die Goldwaag legt.«

»Soll ich vielleicht selber ein Hexenmeister sein?« lachte Friedrich. »Nur herzhaft raus mit der Farb! Ich lauf deswegen nicht sogleich vor Kirchenkonvent, ich bin nicht so empfindlich, auch hat man seiner Lebtag keinen Esel einen Hexenmeister gescholten, denn dumme Leut kann der Teufel, scheint's, nicht brauchen.«

»Was die alte Hammelayin betrifft«, sagte der Invalide, um das Gespräch von dieser Klippe ab wieder in ruhigeres Fahrwasser zu leiten, »so ist es gewiß und wahrhaftig, daß sie eine mächtige Raffel unter der Nas sitzen hat.«

»Ja«, sagte ein anderer, »sie hat aber nicht bloß ein bös Maul, sondern es ließ sich sonst noch allerlei über sie sagen. Wißt ihr noch, wie ihre ältere Tochter, die jetzt den Schneider hat, wie die mit dem Diegelsberger hat Hochzeit gehabt? Die Hochzeit ist im ›Hecht‹ angestellt worden, und der Bräutigam, dem's schon um acht Uhr weh gewesen ist, nachts[165] um zwölfe will er noch einen Tanz tun, – plötzlich stürzt er nieder und ist in Zeit einer Minut maustot. Es ist so schnell gangen, daß ein tanzendes Paar über ihn zu Fall kommen ist; die haben einen Greusel davongetragen, daß sie's ein paar Tag lang geschüttelt hat. Man hat viel drüber gesprochen.«

»Nun ja, was wird's gewesen sein?« sagte Friedrich, »ein Steck- und Schlagfluß.«

»Ja, so hat man bei Amt auch gesagt und hat ihn mit einer Leichenpredigt auf dem Kirchhof begraben. Ich weiß noch, wie sie angefangen hat: ›Hui, hui, sagt der Tod, der starke Held, ich kann auch mittanzen.‹ Aber es gibt Leut, die wollen's besser wissen, die sagen – Nun, ich will nichts gesagt haben, aber so viel ist gewiß, daß der Alten die Heirat von Anfang an nicht nach ihrem Gusto gewesen ist. Die Junge hat erschrecklich getan und hat sich nicht trösten lassen wollen. Nachmals aber hat sie den Schneider genommen; ich weiß noch, auf ihrer Hochzeit ist grad die Nachricht ankommen, daß ihr Schwager, der Goldstein, der sein Weib mit drei Kindern hier hat sitzen lassen, in Speier die Religion schangschiert hab und eine Katholische geheiratet und sei mit ihr nach Pennsylvanien gangen.«

»Von der Alten erzählt man ein feines Stücklein aus ihren jungen Jahren, wo sie bei Seines Pflegers Vater im Dienst gewesen ist«, hob ein anderer, zu Friedrich gewendet, an. »Damals hat sie's mit einem Balbierersgesellen gehabt aus Adelberg. Er hat ihr zu Familie verholfen, eine Tochter ist's gewesen, ich[166] glaub, eben die Schneiderin, die so unglücklich hat Hochzeit gehabt. Sie hat ihn aber verschont und hat ihn nicht angegeben, daß er der Vater zu ihrem Kind sei. Er hat's ihr nachher schlecht gedankt und ist von ihr wegblieben. Jetzt, was hat das leichtfertig Mensch getan, das nichtsnutzig? Über einmal, wie ihr Herr in die Küche kommt, sieht er ein Paar Strumpf im Kamin hängen. Was sind denn das für Würst, fragt er, sollen denn die geräuchert werden? Die Magd, nicht faul, reißt die Strümpf geschwind herunter und gibt vor, die Strumpf gehören ihr, sie hab sie schnell wollen trocknen, weil sie naß geworden seien. Er aber, ebenso flink, reißt ihr noch einen aus der Hand und sieht, daß es ein Mannsstrumpf ist. Wie er ihr nun das fürgehalten hat und sie hat nicht wollen weichgeben, so hat er sie beim Pfarrer angezeigt, und da hat sie endlich nach vielem Leugnen gestanden, ein Schäfer hab ihr geraten (sie wird aber keinen dazu braucht haben), sie solle sehen, daß sie ein Kleid oder etwas, das der Mensch mit Salvene auf'm bloßen Leib getragen hab, zur Hand kriegen könne, und solle es in den Rauch hängen, dann werd's dem Täter warm werden und immer wärmer und werd keine Ruh haben, bis er wieder zu ihr komme.«

»Die Frag ist nur, ob der Barbier auch richtig wiederkommen ist«, bemerkte Friedrich.

»Nein, kommen ist er nicht mehr«, sagte der Erzähler.

»Dann will ich's gern glauben!« rief Friedrich mit hellem Lachen. »So kann ich auch hexen. Ich sag[167] nur: Kurrle, Murrle, dann muß der Krug dort auf dem Schrank tanzen. Aber wenn ich nicht dazu den Schrank mit den Händen schüttle, so tanzt der Krug eben nicht. Hexenwerk mag schon mancher und manche probiert haben, das will ich zugeben, aber die Frag ist nur, ob was dabei herausgekommen ist.«

»Vielleicht ist der Balbierer doch innerlich verbronnen«, stammelte der Schütz.

Friedrich lachte ihn aus. »Ja«, sagte er, »wenn er Schnaps gesoffen hat.«

»Mir hat doch einmal ein Zimmermann erzählt«, fiel der Müllerknecht ein, »es hab ihn nachts eine Hex gedrückt und gepeinigt, daß er schier erstickt sei. Er sei dann aufgewacht und hab die Unholdin in Gestalt einer schwarzen Katz auf ihm liegen sehen. Da hab er mit der letzten Kraft nach der Axt neben seinem Bett gegriffen und hab nach der Katz gehauen. Die sei mit einem lauten Schrei davongefahren und hab ein Stück von der Vorderpfot dahinten gelassen. Morgens sei zwar nichts mehr davon dagewesen, wohl aber Blut auf'm Bett und an der Axt. Drauf hab er seine Gedanken auf ein altes Spittelweib geworfen und sei in den Spittel gangen, um nach ihr zu sehen. Man hab ihm aber gesagt; er könn sie nicht sehen, sie liege todkrank im Bett. Er sei aber dennoch zu ihr gedrungen und hab sie mit Gewalt aufgedeckt, und da habe sich's gezeigt, daß ihr die linke Hand gefehlt habe, die sei ihr von seiner Axt abgehauen gewesen.«

»Hu, mir gräuselt's!« rief einer um den anderen[168] von der Gesellschaft, die sehr andächtig zugehört hatte.

»O Peter, glaub doch kein so Ding!« sagte Friedrich. »Was wird sich denn ein Weib in eine Katz verwandeln können? Wenn du dir von jedem Zimmermann solche Spän aus'm Verstand hauen läßt, so wirst bald so dumm, daß man Riegelwänd mit dir hinausstoßen kann.«

Der Streit gegen den hartnäckigen Ungläubigen brach abermals aus, und diese Leute, die ein derbes Wort über Pfarrer und Kirche ertrugen, wurden ganz wild darüber, daß es mit Hexen und Gespenstern nichts sein sollte, und verteidigten mit einer wahren Glaubenswut ihr Dogma, daß der Teufel bösen Menschen die Macht verleihe, auf wunderbare Weise Schaden zu tun, und daß Gott abgeschiedenen Geistern, guten wie bösen, von Zeit zu Zeit aus dem Grabe an die Oberfläche der Erde heraufzusteigen erlaube.

»Nun ja«, sagte Friedrich endlich einlenkend, »ich will ja nicht dawider sein, daß sich's andrer Orten vielleicht so verhält, wie ihr saget, denn das weiß ich ja nicht. Aber hier bei uns gibt's keine Hexen und keine Geister, das behaupt ich.«

»Und warum denn nicht?« rief einer.

»Weil mir noch keine Hex beikommen ist, und es gibt doch ganz gewiß solche, die mich zu Tod drücken täten, wenn sie könnten, aber sie können eben nicht.«

»Und warum keine Geister?« fragte ein anderer.

»Weil ich noch keine gesehen hab! Und was ihr von euch erzählet, daß euch schon vorgekommen sei, das[169] muß mir selber erst auch widerfahren sein, bevor und daß ich's glaub; denn ich kann doch nicht einsehen, warum ich ein anderer Mensch sein soll als andere.«

»Andere Leut sind aber doch anders beschaffen«, sagte der Müllerknecht. »Es gibt Sonntagskinder.«

»Ich bin auch am Sonntag geboren«, erwiderte Friedrich, »und hab zeit meines Lebens nie was geschaut. Ich weiß ganz gewiß«, fuhr er mit wachsender Wärme fort, denn der Wein stieg ihm nach und nach in den Kopf, »wenn ein Verstorbenes wieder zu den Menschen kommen könnt, so wär ich so gut ein Geisterseher wie irgendeiner in der Welt.«

»Warum das? Woso?«

»Meine Mutter«, sagte der junge Mensch, indem er trotz seiner Lebhaftigkeit die Stimme dämpfte, »meine Mutter würde sich's nicht nehmen lassen, nach mir zu sehen, wenn das ihr gestattet würde. Und warum sollt ihr's nicht verstattet sein wie den andern Geistern? Aber eben das, daß sie nicht zu mir kommt, ist mir ein Beweis, daß die anderen auch nicht können.«

»Narr, sie will dich eben nicht erschrecken«, lallte der Kübler, dessen Augen allmählich gläsern wurden.

»Sie weiß recht gut, daß ich nicht an ihr erschrecken kann, mit welchem Aussehen sie mir auch erscheinen mag. Oft«, fuhr er nachdrücklich fort, nachdem er einmal die Scheu überwunden hatte, von diesem Gegenstande zu reden, »oft hab ich um Mitternacht, wenn ich ganz allein gewesen bin, ihren[170] Geist beschworen, leis und laut, und hab sie gebeten, wenn es ihr möglich sei, so möcht sie den Himmel auf einen Augenblick verlassen und zu mir kommen. Aber es hat sich nichts darauf ereignet, ich bin allein gewesen nach wie vor, und hab auch nichts um mich vernommen als das stille Sausen der Nacht, das aber nicht von Geistern kommt, sondern von der Luft, weil die Nacht gar gehörsam ist.«

»Gott steh uns bei!« hatten die anderen während dieser Erzählung gerufen, die ihnen fremd und seltsam deuchte.

»Das ist ein grausamer Mensch!« sagte der eine, womit er die Grauenhaftigkeit dieses Treibens bezeichnen wollte.

»Der glaubt an gar nichts!« wiederholte der andere. »Der kommt einmal in den Himmel, wo die Engel schwarz sind und Wauwau singen.«

»Jetzt soll einmal die Beckin erzählen, ob sie schon einen Geist gesehen hat!« rief der Invalide, fortwährend bemüht, das Gespräch in einem ungefährlichen Gange zu erhalten.

»Ja, die Beckin soll erzählen!« riefen ihm mehrere Stimmen nach.

Die Bäckerin richtete den Kopf im Sorgenstuhle auf, worin sie den ganzen Disput verschlafen hatte. Man mußte ihr erst erklären, um was es sich handle. »Ha, daß es Hexen und Geister gibt«, sagte sie gähnend, »das leidet keinen Zweifel, aber zu mir ist noch keine Hex gekommen, weder bei Tag noch bei Nacht, und keinen Geist hab ich auch noch nie gesehen.«[171]

»Ihr habt eben ein ruhiges Gemüt, Bas«, sagte Friedrich lachend, »auf Euch könnt, glaub ich, eine Hex die ganze Nacht reiten, Ihr tätet nichts davon inn werden. Übrigens ist's nicht recht, in der Neujahrsnacht zu schlafen und Eure Gäst mit Gähnen anzustecken. Morgen ist ja Kirch, da könnt Ihr's reinbringen, was Ihr heut nacht am Schlaf versäumet.«

»Ja, ja!« rief der Müllerknecht. »Letzten Sonntag hab ich mich auch an der Beckin ihrem ruhigen Gemüt erbaut unter der Predigt. Der Herr Pfarrer hat geschrauen, daß man's in Reichenbach hätt hören können, aber die Beckin hat sich nicht verrührt, sie hat ganz klein ausgesehen in ihrem Stuhl, und der Kopf ist ihr zwischen den Achseln eingesunken gewesen wie ein Schnitz, der oben in einem Hutzelbrot steckt.«

»Ach was!« entgegnete die Frau unschuldig, »man muß sich die ganz Woch leiden, wenn man auch noch das bißle Kirchenschlaf nicht hätt, so wär's ja nicht zum Prästieren.«

Die Gesellschaft brach in ein wieherndes Gelächter aus, das lange kein Ende nehmen wollte, bis endlich der Bäcker seine Frau aufmerksam machte: »Du, Weib, da klopft's am Küchenfenster.« Sie horchte hin, ohne daß etwas zu hören war; nach einer Weile aber klopfte es wiederholt und vernehmlich.

»Aha, das ist ein Geist!« rief der Müllerknecht.

»Machet mir nicht angst«, rief die Bäckerin. »Ich will's übrigens mit ihm aufnehmen«, setzte sie hinzu und ging in die Küche.[172]

»Ich glaub auch nicht an Hexen«, sagte der betrunkene Schütz.

»Warum nicht?« schrien die Bauern eifrig.

»Weil mein Glas schon eine ganze Ewigkeit leer dasteht und sich nicht füllen will. Wenn's Hexenwerk gäb, so müßt's von selber voll werden.«

Der Kübler, der kaum mehr die nötige Kraft zum Reden besaß, obgleich er unermüdlich zu trinken fortfuhr, schob dem Nimmersatt sein Glas hin.

»Jetzt möcht ich aber doch nächstens aus der Haut fahren über die Hungermuck, die einem da den ganzen Abend hinhockt!« sagte der Invalide leise zu seinem jungen Nachbar. »Wenn ich doch nur auch ein Mittel wüßt, wie man ihn fortbringen könnt, den Halunken.«

»Da wird bald geholfen sein«, flüsterte Friedrich und wußte sich vom Tisch und zur Stube hinauszumachen, ohne daß sein Weggehen jemand in die Augen fiel.

Der Invalide, der nichts von seinem Vorhaben ahnte, erdachte inzwischen gleichfalls einen Kunstgriff, um den beschwerlichen Schmarotzer fortzubringen. »In der ›Sonn‹ ist's heut lustig«, sagte er, »der Sonnenwirt hat die Spendierhosen an und läßt eine Flasch um die andere springen; ich hab gehört, er hab einen Fahnen auf'm Hut wehen.« – Friedrich hatte ihm anvertraut, daß sein Vater den Wein etwas spüre und guter Dinge sei.

»Das kommt selten vor, daß der Sonnenwirt 'n Spitzer hat«, sagte der Müllerknecht. »Wahr ist's aber:[173] wenn er angestochen ist, dann spendiert er. Außerdem tut er's nicht.«

Auf den Schützen wirkte die Mitteilung sichtbar beunruhigend. Er wußte nicht recht, wie er es angreifen solle, um alsbaldigen Gebrauch von ihr zu machen. Endlich siegte doch die Lockung über die Furcht, daß man seine Absicht merken könnte. Er behauptete stotternd, er müsse im Flecken nachsehen, ob keine Ungebühr vorgehe, wünschte umständlich gute Nacht und schwankte zur Türe hinaus, während der Invalide und der Müllerknecht einander heimlich anlachten.

»Der hat auch schwer geladen«, sagte der Müllerknecht hinter ihm drein. »Der hätt nicht noch mehr nötig.«

Kaum war er draußen, so kam Friedrich wieder herein. »Alle Teufel!« flüsterte er dem Invaliden zu, indem er sich geschwind wieder zu ihm setzte, »warum habt Ihr ihn fortgelassen? Wo ist er hin?«

»Ist er Ihm denn nicht begegnet?« fragte der Invalide, der das sonderbare Benehmen seines jungen Freundes nicht begriff.

»Ich hab mich hinter die Tür versteckt. Wo ist er denn hin?«

»Rechts hinunter, der ›Sonne‹ zu.«

»Ruft ihn, ruft ihn zurück!« sagte Friedrich mit größter Hast, ohne zu bedenken, daß dazu ein hölzernes Bein nicht das tauglichste war. »Es ist zu spät«, murmelte er in kalter Bestürzung, »gebt acht, jetzt fliegt er.«[174]

Dem Invaliden ging ein Licht auf. Es war aber keine Zeit mehr, etwas zu ersinnen, das die Gefahr abwenden konnte, ohne den Täter zu verraten, denn in demselben Augenblick erfolgte auf der Straße ein furchtbarer Knall, der das Haus erschütterte. Alle sprangen vom Tisch auf, ausgenommen den Kübler, der stumm verwundert um sich sah. Friedrich war der erste, welcher hinausstürmte, da er glaubte, unmittelbar nach dem Knall, dessen Ursache ihm nur zu gut bekannt war, einen Schrei von einer weiblichen Stimme vernommen zu haben, der ihm das Mark durchschnitt. Draußen stand der Schütz unbeweglich wie eine Salzsäule. Er überließ es den andern, sich mit ihm zu beschäftigen, und eilte mit klopfendem Herzen weiter. Obgleich es hell war, sah er niemand und wollte eben wieder umkehren, als er nicht weit von sich schluchzen hörte. Er ging dem Tone nach. Im Schatten eines Hauses stand ein Mädchen angelehnt, das die Hände vors Gesicht hielt und heftig zitterte. »Um Gottes Jesu willen!« sagte er, »ist ein Unglück geschehen?« Er eilte auf sie zu und zog ihr die Hände vom Gesicht. Es war Christine.

»Hat's dir etwas getan?« fragte er verzweiflungsvoll.

»Nein, es ist nur der Schreck«, antwortete sie. »Es ist mir in alle Glieder gefahren und hat mich so angegriffen, daß ich weinen muß.«

»Gott sei Lob und Dank!« flüsterte er. »Da hätt ich eine schöne Dummheit anrichten können.«

»So?« sagte sie, noch immer weinend, »jetzt weiß[175] ich, wer mir das getan hat; für solche Streich bedank ich mich. Vor so einem Mutwillen ist man ja seines Lebens nicht sicher.«

Der Brauskopf, der soeben noch bereit gewesen wäre, sie fußfällig um Verzeihung seiner unsinnigen Torheit zu bitten, war plötzlich umgewandelt. »Du tust ja, wie wenn's dich mitten auseinandergerissen hätt«, sagte er kalt. »Sei du froh, daß dir's nichts getan hat, und lauf nicht rum bei der Nacht, dann widerfährt dir nichts.«

»Ich kann ja heimgehen«, erwiderte sie tiefbeleidigt. »Den Gang hätt ich mir ersparen können. Ich will mir's merken. Gut Nacht!« Sie bog um das Haus und war verschwunden.

Er wandte sich trotzig und ging zurück. Die Gesellschaft hatte indessen den Schützen wieder in die Wirtsstube gebracht. Auch an ihm war die Gefahr glücklich vorübergegangen, und nur der Knall hatte ihn anfangs bis zur Sinnlosigkeit betäubt. Doch führte er noch etwas verwirrte Reden und versicherte, er habe einen Geist gesehen, einen weiblichen Geist, der ihn durch den Blitz des Feuers mit großen Augen angestarrt habe. Es wurde lebendig in der Wirtschaft. Die Scharwache kam, um vergebliche Untersuchungen nach dem Urheber der gefährlichen Mine anzustellen; auch hatte der Lärm Gäste aus anderen Wirtshäusern hergelockt. Friedrich ließ Wein heraufschaffen, zunächst für den Schrecken, wie er sagte, den der Schütz gehabt; aber es fanden sich auch noch andere Abnehmer. Man sprach und schrie über den Vorfall; die einen[176] schimpften auf den Täter, die andern lachten. Der Invalide spottete, daß man über einen Mordschlag ein so großes Aufheben mache; in seinen Schlachten habe es anders gedonnert, sagte er und machte einen neuen Versuch, seine Kriegsgeschichten zu erzählen; aber die Leute waren zu aufgeregt, um ihm zuzuhören. Gegen Friedrich wurde kein Verdacht laut; die wenigen, die den wahren Täter erraten hatten, wußten zu schweigen.

Mitten im Tumult zupfte ihn die Bäckerin am Arm und gab ihm ein Zeichen. Er folgte ihr in die Küche. »Es ist ein absonderlicher Briefträger dagewesen«, sagte sie und gab ihm einen Brief: »Das Christinele hat gesagt, es hab den ganzen Abend keinen Menschen finden können, der ihm den Brief fortgetragen hätt, und in die ›Sonne‹ hab es nicht mit ihm gehen mögen; da hab es eben versucht, ob das Briefle nicht hier an seinen Mann zu bringen wär, und richtig, es hat keinen Metzgergang getan. Ich bin nur froh, daß dem Kind nichts geschehen ist; denn kaum ist es fort gewesen, so ist der teufelhäftig Knall losgegangen. Die Jugend wird immer schlimmer. Ich wollt, man tät den Malefizkerl, der den Mordschlag gelegt hat, an den Ohren kriegen und tüchtig schütteln, das wär ihm gesund.«

»Dem Mädle ist nichts widerfahren«, sagte Friedrich etwas verlegen, »ich hab draußen nachgesehen, es ist kein Mensch verunglückt. Was steht denn in dem Brief?«

»Weiß ich das?« entgegnete sie mit schlauem Lächeln, »kann ich wissen, was ihr für Geschäfte[177] miteinander habt? Nun, ich will nicht neugierig sein.«

Sie ging in die Stube. Friedrich erbrach mit bebender Hand den Brief und las ihn bei der trüben Küchenampel. Christine bat ihn um Verzeihung und rief ihn zu sich zurück! In seinem Entzücken dachte er nicht daran, daß seit der Ankunft dieses Briefes schon wieder eine neue Wolke zwischen ihn und sie getreten war, er stand wie von einer Flamme umgeben, drückte den Brief ans Herz und jauchzte laut auf. Zu gleicher Zeit erscholl auch in der Stube ein Jauchzen und Gläsergeklirr. Die Glocke vom Turm hatte den neuen Zeitabschnitt zu verkündigen begonnen, der eigentlich mit jeder Sekunde eintritt, der aber da, wo zugleich die Jahreszahl sich mit ihm verändert, einen tieferen Eindruck auf den Menschen macht, und nach alter Sitte stießen die Leute mit den Gläsern an und riefen einander Glückwünsche auf das neue Jahr mit seinen noch verschleierten Geschicken zu.

Friedrich eilte in die Stube, ergriff sein Glas und stieß mit an.

»Prosit's Neujahr!« rief ihm der Invalide zu. »Es lebe das Jahr Siebenzehnhundertneunundvierzig!« antwortete er.

»Siebenzehnhundertfünfzig!« schrie man ihm von allen Seiten entgegen, und der Rechnungsfehler wurde mit lautem Gelächter zurechtgewiesen. »Der will das Neujahr leben lassen und kann nicht hinein!« spottete einer. »Fünfzig schreibt man jetzt, und das zehn Jahr lang, mußt dich dran gewöhnen«,[178] sagte ein anderer. »Kannst nicht aus der Zahl heraus, wo das Jahrhundert in sein Schwabenalter gekommen ist?« fragte ein dritter.

»Mag leicht sein«, sagte Friedrich halblaut, so daß nur der Invalide es hören konnte, »in dem Jahrzehnt, das sich mit vierzig schreibt, hat meine rechte Mutter noch gelebt, und da ist es wohl zu begreifen, daß mir die Zahl wie eine alte Heimat ist, aus der man nicht gern heraus mag. Also das Jahr Siebenzehnhundertfünfzig soll leben!« rief er, nochmals das Glas erhebend, und in seinem Herzen setzte er hinzu: »das Jahr, das mir Ersatz geben soll!« Es war ihm, als ob er jetzt wieder eine Mutter hätte. Er hielt es nicht lange in der Gesellschaft mehr aus. Es war still und sanft in ihm geworden, und diese innere Glückseligkeit taugte nicht zu dem, was um ihn her vorging. Das Lachen und Johlen nahm überhand, und zwar um so ungestörter, als die Polizei sich selbst daran beteiligte. Der Schütz, der durch den Schrecken ziemlich nüchtern geworden war, hatte die neue Gelegenheit zum Trinken nach Kräften benutzt und machte schon wieder Riesenfortschritte in der Trunkenheit. Der Kübler hatte von seinen fünf Sinnen keinen einzigen mehr ganz beisammen und belustigte die Gesellschaft durch die grunzenden Laute, die er von sich gab. »Bringet die Noten im Kübel her, die S– will singen!« rief der Schütz, aber während er sich über seinen Genossen lustig machen wollte, stürzte er auf einmal mitsamt dem Stuhl zu Boden und stand nicht mehr auf. Das wilde Gelächter über diesen Auftritt schallte noch[179] lange hinter dem Flüchtling her, der die Herrlichkeit hinter sich ließ, ohne gute Nacht gesagt zu haben.

Zu Hause fand er seinen Vater noch wach und noch immer von Gesellschaft umgeben. Er brummte über sein langes Ausbleiben, doch mehr, wie es schien, aus väterlichem Wohlwollen, daß er sich ihm an einem so heiteren Abend entzogen hatte, als aus Mißmut darüber, daß er seiner Pflicht nicht nachgekommen war. Noch in später Stunde waren Fuhrleute angelangt; sie fluchten wacker über den langen Aufenthalt, der ihnen durch verschiedene Zufälle und am meisten durch den Eßlinger Zoll verursacht worden war. Friedrich widmete sich mit Eifer ihrer Bedienung, und ihre Scherzreden bewiesen, daß er von lange her bei ihnen wohl angeschrieben sei. »Er geht so leichtfüßig einher, als ob er in der Luft wandeln tät«, sagte einer derselben von ihm, und die Bezeichnung war richtig, denn das Gefühl, das ihn seit dem Empfang von Christinens Brieflein beseelte, hatte ihm gleichsam Flügel an die Sohlen geheftet.

Er ging als ein glücklicher Mensch zu Bette, trunken von Liebe und auch ein wenig vom Wein. Da er nicht sogleich einschlafen konnte, so hörte er noch den Neujahrswunsch der armen Kinder, die, mit Lichtern umherziehend, vor den Häusern zu singen pflegten. Es war ein einziger Vers, der für jedes Mitglied der Familie, und wenn sich ihre Zahl noch so hoch belief, besonders wiederholt wurde. Zuerst traf die Reihe den Hausvater, dann die Mutter;[180] die Kinder, soviel ihrer waren, wurden jedes einzeln angesungen, dann kamen die Mägde, dann die Knechte und ganz zuletzt, wenn der Gratulationszug vor einem Wirtshause hielt, die bekannteren Gäste, die darin wohnten. Sie sangen, als die Reihe an Friedrich kam:


Jetzt wünschen wir auch dem Herrn Johann Frieder ein gut's neu's Jahr,

Ein gesundes Jahr,

Ein glücklich's Jahr,

An Fried und Freud ein reiches Jahr.

Gott mach es wahr!

Gott gebe, daß es werde wahr!


»Gott gebe, daß es werde wahr!« sprach Friedrich in seiner Kammer nach.

Quelle:
Hermann Kurz: Der Sonnenwirt. Kirchheim / Teck 1980, S. 141-181.
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