Ein Lied vom Lande

[219] Schatz, mein Schatz, reise nicht so weit von hier,

Schatz, mein Schatz, reise nicht so weit von hier;

Im Rosengarten will ich deiner warten,

Im grünen Klee, im weißen Schnee.
[219]

Der jungen blassen Frau im vierten Stock

Fallen die Hände müd' herab am Rock.

Wie lange hörte sie nicht mehr das Lied!

Ein bunter Traum ihr vor die Seele zieht:

Der grüne Wald, das weite breite Feld,

Des Dorfes Häuser, weit und breit gestellt,

Die Schwalben spielen lustig in der Luft,

Vom Friedhof kommt der Linden süßer Duft,

Vom Giebel eine Amsel fröhlich singt,

Der Kinder Jauchzen aus der Wiese klingt.


Wie enge ist es in der großen Stadt!

Nur Mauern, nirgendwo ein grünes Blatt.

Der Bauwich drüben ist nun zugebaut,

Ein Stückchen Himmel hatte dort geblaut,

Ein Ast schob keck sich vor der Mauer her,

Im Winter kahl, im Sommer blätterschwer.

So oft die blasse Frau dorthin geblickt,

Hat sie ihr müdes Herz daran erquickt;

Ihr Lied des Abends da die Amsel sang

Frohlockend in den Großstadtlärm es klang.


Jetzt ragt dort eine kahle Wand empor;

Die Frau am Fenster weiß, was sie verlor:

Das bißchen Blättergrün, das Stückchen Blau,

Ihr war es Herzenstrost und Seelentau.

Gleichgültig sieht sie sich im Zimmer um,

Der billige Tand bleibt seelenlos und stumm;

Daheim im Dorfe sprach ein jedes Stück,

Dieses von Last und Leid und das von Glück.

Die junge Frau ein Schluchzen niederzwingt,

Von irgendwo die Stimme weitersingt:


Ich heirate nicht nach Geld und nicht nach Gut,

Ich heirate nicht nach Geld und nicht nach Gut;

Eine junge hübsche Seele tu' ich mir wählen,

Wer's glauben tut, wer's glauben tut.

Quelle:
Hermann Löns: Sämtliche Werke, Band 1, Leipzig 1924, S. 219-220.
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