Der Kater und die alte Maus

[64] Ich las bei einem alten Fabeldichter

Von einem Nagespeck dem Zweiten,

Der war ein wahrer Katzen-Alexander,

War eine Geißel für das Diebsgelichter

Der Mäuse in vergangnen Zeiten

Und trieb gleich einem Attila sie durcheinander.

Ich sage euch, ich las bei jenem Dichter,

Daß unser Kater wie ein Höllenhund

Auf Meilenweite rings gefürchtet war,

Als sei er ausersehn, das Erdenrund

Ganz zu entvölkern von der Mäuse Schar.

Schlagbretter, Gift und Fallen –

Ach, alles war nur Kinderspiel

Verglichen dem, was seinen Krallen

Und Zähnen rings zum Opfer fiel.

Da nun der Würger merkte, daß die Mäuse

Sich bang verbargen in dem Schlupfgehäuse

Der engen Löcher und bei Tag und Nacht nicht mehr

Herauszugehen wagten, sann er hin und her

Auf schlauen Streich. Er spielte einen Toten,

Hing sich an Stricken mit den Hinterpfoten

Am Deckenbalken auf, den Kopf nach unten.

Das Mäusevolk lugt aus den Löchern drunten

Und meint, er habe, was auch ihm verboten,

Diebstahl an Käse oder Fleisch begangen,

Vielleicht sogar noch schlimmre Sachen,

Und sei zur Strafe aufgehangen;

Und einig darin waren alle,

Bei der Beerdigung zu lachen.

Doch selbst des Totgeglaubten Kralle

Erweckt noch Furcht; sie heben zwar[65]

Die Nasen hoch und zeigen gar

Die Köpfe, doch im Augenblick

Zieht alles wieder sich zurück.

In neuem Anlauf wagt die Schar

Sich einige Schritte kühn voran.

Dann endlich fangen lüstern sie

Nach rechts und links zu suchen an.

Ein blutiges Fest, das nun begann!

Lebendig auferstand das Vieh,

Das starr und steif am Balken hing,

Fiel nieder, schnappte zu

Und griff und schlug im Nu

So manches arme Schnüffelding,

Das nicht geschwind ein Schlupfloch fand.

Rot färbte sich die Mörderhand.

Der Böse rief den Flüchtigen hinterdrein:

»Auf Wiedersehn! Das war die erste List,

Und wie mir diese wohlgeraten ist,

So soll's auch mit der nächsten sein.

Ich warne euch! Die Höhlen retten

Euch nur für kurze Galgenfrist,

In meinen Bauch will ich euch alle betten.«

Und Meister Leisetritt sprach keine Lügen,

Denn es gelang ihm ohne Fehl,

Auf neue Art die Mäuse zu betrügen.

Sehr fein sogar. Er nahm in Mehl

Ein Vollbad, weiß verkleidet legte

Er sich in einen Backtrog nieder.

Als bei den Mäusen sich der Hunger regte,

Kam eine nach der andern wieder.

Zu ihrem Unheil kamen sie!

Triumphe feierte des Katers Strategie.

Nur eine alte Maus, ein pfiffiges Genie,[66]

Die schon in einer Schlacht den Schwanz einbüßte,

Bezwang die Lust. Von weitem nur begrüßte

Sie den bemehlten Block und rief voll Vorsicht hin:

»Mir macht das Mehl nichts weis, ich ahne Krallen drin.

Und wärst du auch ein Sack, ich käme dir nicht nah.«

Das war ein heller Kopf, der so dahinter sah.


Man soll auf äußern Schein nicht bauen,

Den besten Schutz gewährt Mißtrauen.

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 64-67.
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