Die ertrunkene Frau

[62] Ich bin nicht einer, der da sagt: »Ach, Kleinigkeit!

Nur eine Frau, die sich ertränkt!«

Ich sage, das ist viel, und bin bereit

Um sie zu trauern, weil das Weib uns Freude schenkt. –

Das Vorgesagte ist nicht überflüssig

Für meine Fabel, denn sie meldet dies,

Daß eine Frau, des Lebens überdrüssig,

Sich eines Tages in die Fluten fallen ließ.

Ihr Gatte wollte wenigstens die Leiche retten,

Um sie mit Kirchenehren einzubetten.

Doch von den Leuten, die zur Unfallzeit

Am Ufer gingen, hatte keiner wahrgenommen,

Wo ihre Leiche hingeschwommen.

Mit Rat jedoch war jeder gern bereit.

»Es liegt,« sprach einer, »wohl in der Natur

Der Dinge, daß sie mit der Strömung nur

Flußabwärts treiben konnte.« Sprach ein andrer: »Nein!

Daß man sie aufwärts sucht, scheint richtiger mir zu sein.

Wie stark auch das Gefälle und die Kraft,

Mit der das Wasser alles vorwärts schafft,

Der Geist des Widerspruches wird das Weib bestimmen,

Gegen die Strömung anzuschwimmen.«


Der Mann trieb seinen Spott wohl nicht zur rechten Zeit,

Auch weiß ich nicht, ob's allen richtig scheint,

Was er vom Widerspruch gemeint.[63]

Doch sei die Eigenschaft, der er die Frauen zeiht,

Ein Fehler oder nur ein böser Hang,

So geht doch die Behauptung nicht zu weit:

Wer widerspricht, der widerspricht sein Leben lang!

Und nicht nur von der Wiege bis zum Grabe,

Nein, noch im Tode übt er diese Gabe.

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 62-64.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Fabeln
Sämtliche Fabeln
Sämtliche Fabeln
Sämtliche Fabeln, Sonderausgabe
Sämtliche Fabeln.
Hundert Fabeln