Der Wolf, der ein Schäfer geworden

[47] Dem alten Wolfe, dem es schwer geworden,

Die Lämmer von dem Weideland zu stehlen,

Gedachte jetzt auf leichtre Art zu morden;

Es sollte ihm an List und Kunst nicht fehlen.

Er steckte sich in einen Hirtenrock,

Nahm Ränzel, Dudelsack und langen Stock

Und hätte zur Vollendung seiner List

Noch gern auf seine Stirn geschrieben: »Dieser ist

Guillot, der Herde Hirt.« Der falsche Guillot ging,

Indem er auf den Stab die Vorderpfoten legte,

Zum Ort des echten Hirts, der grad der Ruhe pflegte

Und dessen schlummernd Haupt das hohe Gras umfing.

Es schliefen auch der Dudelsack, die Hunde

Und selbst die meisten Schafe in der Runde.

Der Heuchler ließ die Schläfer gerne ruhn

Und er ergriff, um einige Lämmer fort

Zum Wald zu treiben, alsobald das Wort,

Im Glauben, nötig sei es, das zu tun.

Doch grade so verdarb er seine Sache nun.

Zu schlecht gelang der Lockungsruf,

Den hier ein Räuberrachen schuf.

Rauh scholl der Stimme Widerhall

Vom Wald zurück. Bei solchem Schall

Erwachten jählings Hirt und Hunde

Und alle Schafe in der Runde.

Der Wolf kam auf der Flucht zu Fall

Durch sein Gewand und seine Last

Und wurde, wehrlos, abgefaßt.[48]

Mag sich ein Schurke auch verwandeln,

Um günstig sich herauszustreichen,

Stets bleiben doch Erkennungszeichen:

Wer Wolf ist, wird als Wolf auch handeln.

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 47-49.
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