Die junge Witwe

[123] Der Tod des Gatten bringt gar viele Tränen mit,

Man macht ein groß Geschrei und tröstet sich am Ende,

Und mit der Zeit vergißt

Man alles, was man litt,

Und reicht der Zukunft froh die Hände.

Die Witwe, die ein Jahr lang Witwe ist,

Und jene, die erst Witwe einen Tag,

Sind so verschieden, daß man zweifeln mag,

Ob beides denn dieselbe Frau.

Die trieb die Männer fort, und diese lockt sie schlau;

Nur Seufzer wußte jene auszuschicken,

Die andere versteht es, jeden zu berücken.

Ja, immer ist die Sache einerlei:

Man sagt, daß man untröstlich sei –

Man sagt's, jedoch man ist es nicht.

Das zeigt uns folgender Bericht,

Der ganz der Wirklichkeit entspricht.


Der Gatte einer jungen Schönen

Schied hin von dieser Welt; in herzbewegten Tönen

Rief seine Frau: »Ich werde mit dir ziehen,

Auch meine Seele will von hinnen fliehen,

Um dir zu folgen; Liebster, warte mein!«

Der Gatte tat die Reise doch allein.

Der Schönen Vater war ein kluger Mann,

Er sah zunächst den Sturm mit an,

Worauf er tröstend dann begann:

»Mein Kind, was sollen deine Tränen?

Kannst du den Toten so tyrannisch wähnen,

Daß ihn danach verlangt, daß deine Reize schwinden?[124]

Noch gibt es Lebende, laß tot den Toten sein!

Du könntest deine große Pein

Mit mehr Beherrschung leicht verwinden;

Denn unschwer ließe sich ein Gatte finden,

Der jung und stattlich anzuschauen –«

»Ach laß!« versetzte sie gequält,

»Das Kloster ist der Gatte, der mir fehlt.«

Der Vater ließ sie ihren Schmerz verdauen.

Ein Mond geht hin. Im nächsten schon gewöhnt man sie,

Das Kleid, die Wäsche, die Frisur zu ändern.

Das Trauerkleid mit Schleifen und mit Bändern

Hat eine eigne zarte Poesie.

Und alle Waffen der Koketterie,

Das Augenspiel, das Lächeln, selbst den Tanz

Nimmt sie zur Hand und badet sich im Perlenglanz,

Den ihr des Jungbrunns Flut ins Antlitz sprüht.

Der Vater sieht nicht länger sich bemüht;

Doch da er unsrer Schönen nichts mehr sagt,

Ist sie es selbst, die eines Tages fragt:

»Wo ist er denn, der nette junge Gatte,

Den deine Umsicht mir versprochen hatte?«

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 123-125.
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