Zwey und funfzigster Brief

[365] Wem soll ich danken? Ihrem Herzen, Ihrem Genius, oder beyden zugleich, die mich die Freude genießen lassen, jede meiner Ideen und Empfindungen vor Sie dringen zu können, wie man sich vor einen Spiegel stellt, um durch ihn das schickliche und unschickliche der Kleidung und Gebehrden, Fehler und Vollkommenheiten der Gestalt zu erblicken, welcher auch unermüdet, über den bey großen und kleinen Anlässen vervielfältigten Gebrauch, immer mit gleicher Redlichkeit das Güte und Tadelhafte beleuchtet. So läßt mich auch, Mariane, Ihr reiner, von allen Vorurtheilen freyer und lichtvoller Geist, jedes Bild meines Verstands nach seinem eigenen Wesen, aber auf allen Seiten beleuchtet, wiedersehen. – Die Güte, Sanftmuth und Wahrheit Ihrer Seele zeigt mir, was richtig, falsch, gut oder bös ist; und so, meine Mariane, sind Sie für mein Herz und meinen Kopf Belohnung und Warnung geworden. Dafür danke ich Ihnen auch mehr, als ich sagen kann.[365]

Nun! Ich habe die fremde Frau singen hören. Alles, alles müßte mich betrügen, wenn nicht eine edle, tiefe Leidenschaft in ihrer Seele liegt. Solche Tone giebt die Kunst allein nicht. Ihr Recitativ ist die Rede einer wahren gefühlvollen Seele, die das Uebermaaß ihrer Empfindungen in einem einsamen Selbstgespräch ausströmen läßt. Ihre Arien sind Trost, den sie sich zuspricht, Aussichten in bessere Zeiten, die sie sich zeigt, und dankbare Wiederholung des genossenen Glücks. Den ganzen Tag gießt sie Freude und Wohlseyn über alles, was sie umgiebt, und des Nachts, wenn diese Glücklichen ruhn, sucht sie durch den Zauber der Musik den innern Jammer ihrer Seele zu lindern um auch schlummern zu können, und zu neuen wohlthätigen Werken Kräfte zu fassen. Dieses war, was ich Mädchen in jeder Faser meines Herzens fühlte, als ich auf die oberste Stufe der Stadtmauerstiege mich setzte, und stille süsse Thränen des Mitfühlens weinte. – Die rasche Frau G** lobte sie, behauptete aber mit den Männern, daß es gewiß eine Theaterheldinn wäre. Ott hatte nichts gesprochen, aber die andern so oft stillschweigen[366] heissen, daß seine Julie, die alles Einnehmende ihres Spiels und Gesangs empfand, ihrem Mann beym Zurückgehen mit Schluchzen sagte: »Lieber Ott! versprich mir, dieser Sirene nicht öfter zuzuhören.« – Er umarmte sie, stillschweigend; und da er auch niemals mehr von ihr sprach, so glaube ich, Juliens Vermuthung einer aufkeimenden Anhänglichkeit wag richtig gewesen seyn. –

Ich besuchte Tags darauf meine Wöchnerinn, in Hoffnung, die Fremde zu sehn. Aber sie hatte den ganzen Tag in einem Hause zugebracht, worinn zwey kranke Kinder waren, denen sie Tod und Leiden, durch Erzählung von Engeln und himmlischen Gespielen, zu versüssen suchte, und mit größter Zärtlichkeit jede Erleichterung und Erquickung gab. Der Knabe von zwölf Jahren, dem sie von der Beschäftigung der, Engel redte, und ihm die Aussicht zeigte, daß er vielleicht zum Schutzgeist seines jüngern Bruders bestimmt würde, hörte ihn lächelnd zu, hob seine matten Hände gen Himmel und sagte: »O Gott, ich glaube, es, denn diese Frau ist gewiß ein Engel, den du in unsere arme Vorstadt schicktest.« – Sie stund von ihrem Stuhl auf, faßte seine[367] gefalteten Händen in die ihrigen, küßte die Stirne des Kranken: »Erler, seliger Knabe, wie gern glaubtest Du Gutes! Du wirst bald Engel sehen, mein Lieber, und bey ihnen alle Dein Leiden vergessen.« – Freude glänzte noch in dem sterbenden Auge des Jungen und seine Eltern faßten Trost darüber. Das jüngere Kind starb eher, und das laute Wehklagen der Mutter machte den kranken Knaben unruhig, und beförderte auch seinen Tod. Da ging Madame Guden, (so nennt sie sich,) weg. Sie kann nicht bey Todten seyn, und sagt: »Für Herz und Seele will ich alles thun, aber die kalte Unempfindlichkeit giebt mir selbst den Todesschauer zu fühlen.« – Sie bezahlte alle Leichentosten, und besuchte die Leute nach dem Begräbniß fleißig. Der Vater des Verstorbenen ist ein armer Knopfmacher, der noch drey Kinder hat. Sie erkundigte sich nach den zwey Schülern, die den Kranken besucht hatten, und sehr traurig über seinen Verlust waren; ließ sie zu sich kommen, und fragte den einen, ob er nicht bey dem Vater seines verstorbenen Freundes die Knopfmacherarbeit lernen wolle? Da der Junge es versicherte, so versprach[368] sie ihm, das Kost- und Lehrgeld für ihn zu zahlen. Hier wurde er aber traurig sah den andern, der unruhig hin und her ging, an, und sagte: »Aber Madame –« stockte dann wieder, und sein Camerad nahm ihn bey der Hand. Madame Guden fing freundlich zu dem ersten an: »Er hat mir was sagen wollen von seinem Freunde. Was ist es? Kann ich ihm was Liebes thun?« – »Ach, Madame, das wäre recht schön!« – »Nun so sagt mirs, ich thu es gewiß auch Eurem verstorbenen Freunde zu Liebe« – Hier weinten beyde Knaben und sagten ihr, sie hätten beyde Lust zu dem Handwerk, und die Mutter des einen könne nichts als das halbe Lehrgeld bezahlen. – »Das hat unser Freund, der gute todte Heinrich gewußt,« fiel der eine ein, »und wollte uns heimlich alles lehren, was sein Vater ihm zeigte; denn er war schon aufgenommen, und wenn wir alles so gelernt hätten, bis zum Gesellen: da härt ich meine Mutter gebeten, das Lossprechgeld für mich und meinen Cameraden da zu zahlen, und dann wären wir alle drey mit einander in die Fremde gegangen und hätten unser Glück gesacht. Aber jetzt ist[369] alles aus, weil Heinrich todt ist.« – Frau Guden wurde bewegt: »Nein, meine Lieben, es ist nicht alles aus. Wenn Ihr wollt, so zahl ich für Euch beyde. Versprecht mir nur, daß ihr rechtschaffen werden wollt, wie Euer Heinrich es war, und daß Ihr immer auch Armen gerne Gutes thun wollt. Sagt mir nun, mit was ich Euch Freude machen kann?« – Beyde sagten zugleich: »Ja, gute Madame! wir wollen alles thun, was Sie sagt; aber wenn wir krank werden und sterben, so muß Sie auch zu uns kommen.« – Sie versprach es ihnen bey der Hand, und hat nun würklich das Lehr- und Lossprechgeld für beyde bey der Obrigkeit niedergelegt, sie gekleidet, zahlt ihr Kostgeld; und läßt sie daneben schreiben und rechnen lernen. Die Mutter des einen Knaben ließ sie auch kommen, und lobte die gute Frau über die Gesinnungen, so sie ihrem Knaben gegeben. Diese war froh über ihres Sohns Glück und sagte, nun könne sie ihrer Tochter helfen, der sie jetzt das Lehrgeld zur Aussteuer geben wolle. Frau Guden verdoppelte es, und wollte auch der Mutter was zur Unterhaltung geben; aber die Frau nahms nicht an;[370] weil sie Haushälterinn bey einem ältlichen Herrn sey, der ihr nach seinem Tode so viel lassen würde, daß sie leben könne; und da ihre beyden Kinder versorgt wären, brauche sie nichts mehr; Madame solle das andern Armen geben. – Sie wandte sich dann gegen die zwey Jungen und empfahl ihnen, wenn sie einmal Meister wären, solle ein jeder einen armen Jungen Gott zu Ehren umsonst lehren. Die guten Jungen versprachen es treuherzig. Madame Guden nahm die Tochter der Frau bey der Hand, mit dem Wunsche, daß sie ihrer so rechtschaffenen Mutter gleich werden möchte, so wie die zwey Freunde des seligen Heinrichs seinem Beyspiel gefolgt wären und dadurch gewiß ganz glücklich seyn würden. –

»Sehen Sie,« sagte ich in unserer Gesellschaft, »wie diese Frau Gutes erweckt und Gutes thut!« – Da wurde von jemand gesagt: »Ja, ja! das sind die schönen Haare der büßenden Magdalena, womit sie unsern Herrn die Füße abtrocknete.« – Dieses Stück Witz, meine Mariane, womit auf den vermutheten Sängerstand der Dame gezielt war, verdrängte jede Bewegung des Lobs, der Achtung und Nacheifrung, so sie verdient.[371] Ganz rauh und roh setzte noch jemand hinzu: »Wer weis, wie viele Streiche sie anderswo hat ausgehen lassen, eh sie hier unsere Arme zu kleiden anfing.« – Lauter Beyfall wurde diesem Gedanken zugelacht; ich aber konnte mich nicht enthalten, Julien zuzuflüstern, daß ich mich sehr glücklich achtete, einen so festen Glauben an reine und edle Beweggründe der ausübenden Menschenliebe zu haben, weil mein Herz mich von dieser Wahrheit überzeugte; und daß, wenn ich so reich und unabhängig wäre, als diese Frau, ich jede gute Idee zu Handlungen machen würde, was man auch immer für Auslegungen darüber finden möchte. –

Ihre Gedanken, Mariane! die Ihrigen allein will ich über mich und über diese Frau anhören und befolgen.[372]

Quelle:
Sophie von La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Theil 1–3, Teil 1, Altenburg 1797, S. 365-373.
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