Diesseits – Jenseits

[29] Diesseits das Ufer und der Strom,

Lichtgrün ein Rasen am klaren Strand.

Der hohe, strahlende Himmelsdom

Über Hügel und Wälder hingespannt.

Jenseits verhohlen und abgewandt,

Wie die schattenflüchtige Seele vom Leib,

Die fremde Küste – sie droht dir: Komm!

Und die Ufer des Lebens lachen: O bleib!


Diesseits eine unendliche Sicht.

Der selig empfangende Mutterschoss,

Geborgnes Keimen zum schäumenden Licht,

Ein Sonnendasein, ein Liebeslos –

Und dann hinüber auf schmalem Floss

Die unsichtbare Küste entlang,

Wo sich die Brandung lautlos bricht:

Ein irres Landen, ein dunkler Empfang.


Wir wandeln hoffend und unbedacht,

Wir gleiten hinauf, hinab.

Bei Tag, wenn die Sonne über dir wacht,

Schwingst du den Wanderstab.

Doch steht ein ragender Grenzpfahl fernab,[30]

Kreuzpfade wirr ringsum –

Der weist mit den Zeigern in die Nacht,

Da stockst du schaudernd und stumm.

Quelle:
Hedwig Lachmann: Gesammelte Gedichte. Potsdam 1919, S. 29-31.
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