Im Schnee

[27] Schneegeriesel. Flocken über Flocken.

In der weichen Luft zerfliesst der Schaum,

Und kein Windhauch weht die Erde trocken.


Aber, wenn im Frost erstarrt der Flaum,

Reift er schnell zu glitzernden Kristallen

Und blinkt dann am Boden und am Baum.


– Nasser Schnee ist auf mein Haar gefallen –

In den Bergen türmt er sich zu Eis

Und zu donnernden Lawinenballen.


Von den Dächern tropft es leise, leis,

Und dazwischen gleiten und verschwimmen

Fern und ferner, kaum dass ich es weiss,


Dämmernde Gedanken, leise Stimmen

Wie Erinnern, wie ein Atem bloss,

Einer Sehnsucht aufgescheuchtes Glimmen.


Alles fliesst der Erde in den Schoss.

Dieses Lebens gleitende Gesichte,

Ungezählte Tropfen, Los um Los,
[28]

Einen Augenblick beglänzt vom Lichte –

Oder in der rauhen Luft gereift,

Und nun auf der harten Erde dichte


Sternkristalle, bis ein Wind sie streift.

Quelle:
Hedwig Lachmann: Gesammelte Gedichte. Potsdam 1919, S. 27-29.
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