35. Ob die Sonne am Oster-Tage tantze?

[231] Es gläubet nicht allein der gemeine Mann allhier bey uns / sondern man findet es auch in etlichen Postillen geschrieben / daß am heiligen Oster-Feste die liebe Sonne am Himmel zu Abendzeiten / wann sie untergehe / tantze / und dreymal Freudensprünge thue /nach den Worten des 19. Psalms: Exultavit ut Gigas ad currendum viam suam. Deßhalben pflegen Alte und Junge des Abends / wann die Sonne will untergehen / mit grossen Hauffen fürs Thor zu spatziren / und zu sehen wie die Sonne tantzet. Wann sie nun dieselbe so lange angeschauet / biß ihnen braun / blau und finster für den Augen wird / so meynne sie gewiß / sie haben die Sonne tantzen sehen: Dieses ist eine grosse Thorheit und[231] Aberglaube. Dann es beweisen so wol die alten als neuen Sternseher / daß weder Sonn noch Mond / noch einiger Stern ein Haar breit aus seinem Stand und ordentlicher Bewegung abweiche / springe oder tantze. Ja wann die Sonne einen Finger breit sich erhübe oder niedersetzete / nach unserm Gesichte / so würde die gantze Welt zugleich sich mit erheben /und krachen müssen. Warlich / wann sichs also verhielte / daß am heiligen Oster-Tage die Sonne sichtbarlicher Weise tantzete / so bedürffte man ja nicht des vielen disputirens / wann die rechten Ostern wären / im Martio oder April / im neuen oder im alten Calender / dann GOtt hätte ein sichtbar Zeichen am Himmel gesetzet / dabey man den rechten Oster-Tag erkennen könte / nemlich an der Sonnen Abend-Tantz.


Der gemeine Mann urtheilet von einem Dinge / wie ers ihm in seinen tummen Kopff hat eingebildet / darum muß man dessen Rede nicht glauben.

Quelle:
Lauremberg, Peter: Neue und vermehrte Acerra philologica, Das ist: Sieben Hundert auserlesene, nützliche, lustige und denckwürdige Historien und Discursen, aus den berühmtesten griechischen und lateinischen Scribenten zusammengetragen [...], Frankfurt am Main, Leipzig, 1717, S. 231-232.
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