76. Von der Natur des Rabens.

[308] Nicht allein der gemeine Mann / sondern auch ihrer viel unter den Gelehrten pflegen von dem Raben zu erzehlen / daß / wenn die Alten ihre Eyer ausgebrütet / sie alsbald die Jungen verlassen / und davon fliegen. Dann / weil dieselbe weiß und nicht schwartz / so erkennen sie sie nicht für ihre eigene / sondern meynen /es seyen frembde. Alsdann ernähre GOtt die jungen Raben wunderbahrlicher Weise / und auf sonderbahre Art / indem er ihnen entweder den Thau in den Mund fallen / oder im Neste kleine Würmlein wachsen läst /welche sie sammlen / und sich also ernähren. Dannenhero macht man viel Klagens über der Raben Unbarmhertzigkeit / nimmt auch hieraus die Erklärung des 147. Psalms. Der dem Vieh sein Futter giebt / den jungen Raben / die ihn anruffen. Das aber ist alles falsch / und der Natur und täglicher Erfahrung zuwider. Wunder ists / daß man solchen Fabeln Glauben giebt / da doch die Raben bey uns / und sonsten hin und wieder häuffig gnug zu finden / also / daß ein jeglicher dieses wohl in Augenschein nehmen könte. Erstlich ist allen Ackersleuten / ja jedermänniglich /der auf Raben Achtung gibt / bekannt / daß Raben eben so fleißig auf ihren Eyern sitzen / ihre Jungen ausbrüten / ernähren und auferziehen / als Hüner und andere Vögel: Wann nach dreyen Wochen die Jungen aus den Eyern herfür kommen / seynd dieselbe nicht weiß / sondern kohlschwartz / mit schwartzen zarten Duhnfederlein bewachsen / eben wie die jungen Tauben / und weil die alten Raben gemeiniglich unterm Dach nisten / wie will der Thau den Jungen ins Maul kommen?[309] Item / weil weder Raben noch andere Vögel (die Küchlein ausgenommen) für dem neundten Tage können sehen / und ihre Augen gebrauchen / sondern /wann sie ihre Alten rauschen hören / das Maul aufthun / und von ihnen ihre Speise empfahen / was wolten sie dann in der Blindheit die Würmelein sammlen / und sich damit speisen? Freylich ists wahr / GOtt speiset die jungen Raben / aber nicht übernatürlicher Weise / sondern auf gewöhnliche Art und Weise durch die Eltern / ebener massen wie er den Jacob ernähret / der da spricht / Gen. 48. GOtt / der mich ernähret hat von Jugend auf biß hieher / verstehe / durch die Eltern. Der obberührte Psalm Davids wird nicht recht angezogen / da stehet zwar im Ebräischen / den Kindern der Raben / aber das ist zu verstehen nicht von den jungen Raben allein / sondern von allen Raben alt und jung. Dann das Wörtlein Ben oder Kind / heist so viel als alte und junge / wie der Joseph / da er hundert Jahre alt war und starb / ein Ben oder Kind genennet wird. Also füttert zwar GOtt die Raben / aber nicht anders / als er Menschen-Kinder /das Viehe und die Vögel füttert / ordentlicher Weise durch Eltern / oder die / so an Eltern statt seyn.


Ein jeder zeuget seines gleichen: Also will GOtt auch lauter Fromme zu seinen Kindern haben.

Quelle:
Lauremberg, Peter: Neue und vermehrte Acerra philologica, Das ist: Sieben Hundert auserlesene, nützliche, lustige und denckwürdige Historien und Discursen, aus den berühmtesten griechischen und lateinischen Scribenten zusammengetragen [...], Frankfurt am Main, Leipzig, 1717, S. 308-310.
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