18. [384] Orpheus mit seiner Leyer.

Orpheus ist aus Tracia bürtig gewesen / der vor seinem Vatter Apollo nicht allein die Leyer empfangen /sondern auch so künstlich darauf spielen gelernet /daß er mit seinem Gesange die Bäume bewegen: Die wilden unvernünfftigen grausamen Thiere an sich ziehen und zahm machen: Die rauschende und starckfliessende Wasserströme zum Stillstehen bewegen: Ja den Mond in seinem Lauff aufhalten / und vom Himmel herunter ziehen können. Seine Haußfrau ist gewesen Euridice, welche / wie sie Aristæus zur unzüchtigen Liebe bereden wollen / sie aber demselben entflohen / von einer gifftigen Schlangen gestochen worden / daß sie balde Todes verfahret. Diese seine Euridicen hat Orpheus so inbrünstig geliebet / daß er auch ihrenthalben sich unterstanden nach der Hölle des Plutonis Hauß zu spatzieren / da dann aller[384] verstorbenen Seelen Platz und Wohnstatt gewesen / der Meynung /seine liebe Euridicen wieder ans Licht / und in diese Welt zu bringen. Also hat er seine Leyer zur Hand genommen / ist damit hinab zu den Verstorbenen gestiegen / allda er dann dem Plutoni, und dessen Frau Proserpinæ, auch denen andern höllischen Geistern aufgespielet / und ein so kläglich und beweglich Liedlein hergemacht / daß er sie zur Erbarmung beweget: Dar auf dann die Proserpina ihm seine liebste Euridicen wieder gegeben / und mit sich nach Hause zu führen vergönnet / aber doch mit diesem Bedinge / daß sie ihm hinten nach im Rücken folgen / und er der Orpheus durchaus nicht zurücke sehen solte / ehe er ans Licht der Ober-Welt käme. Orpheus spatzieret voran / stimmet seine Leyer an / und stillet mit deren süssem Klange den höllischen Hund Cerberum, und andere /so ihm können zu wider fallen: Euridice folget ihm auf dem Fusse nach / er aber / aus grosser Liebe hertzlich begehrend seine Liebste anzuschauen / hat der Proserpinæ Befehl in Vergessenheit gestellet /und sich nach Euridicen umgesehen / die dann zur Stund wieder verschwunden / und zu dem Unterirrdischen gekehret. Orpheus mit unüberwindlichen Schmertzen und höchster Traurigkeit erfüllet / ist (mit seiner Leyer) durch alle Wäld- und Thäler gelauffen /hat sein Elend beklaget / und immerfort um seine liebste Euridice geruffen und geschrien / und nicht allein nach der Zeit kein Weibsbild mehr ansehen wollen /sondern auch alle Männer von der Frauen-Liebe abgemahnet. Dieses hat die Weiber / und insonderheit die Priesterinnen des Abgotts Bachi dermassen verdrossen / daß sie Orpheum gegriffen / todt geschlagen /seine Gebeine hin- und[385] wieder zerstreuet / und das Haupt / wie nicht weniger die Leyer in den Fluß Hebrum geworffen. Die Musæ aber (Göttinnen des Gesangs) haben die zerstreueten Gebeine ihres getreuen Dieners Orphei wieder zusammen gelesen / selbige samt dem Haupte begraben / und die Leyer zu seinem Lob und Gedächtniß an das Firmament des Himmels gesetzet: Allda noch heute zu Tage ein Gestirn leuchtet / welches Lyra Orphei genennet wird.

Durch diß Gedichte haben die Poeten wollen andeuten die Krafft und Nutz der Beredsamkeit / mit welcher /als mit einem süssen Klange Orpheus ein Weltweiser verständiger Mann die unvernünfftigen Menschen /welche vor Zeiten als die wilden Thiere gelebet / zur Tugend und Erbarkeit gebracht.

Quelle:
Lauremberg, Peter: Neue und vermehrte Acerra philologica, Das ist: Sieben Hundert auserlesene, nützliche, lustige und denckwürdige Historien und Discursen, aus den berühmtesten griechischen und lateinischen Scribenten zusammengetragen [...], Frankfurt am Main, Leipzig, 1717, S. 384-386.
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