35. Von zween reisenden Brüdern.

[690] Petrus Reginaldus in Specul. Final. Retrib. erzehlet eine feine Historiam. Es reiseten einmal / spricht er /zween Brüder zusammen: Der eine von ihnen war klug und verständig: Der ander tumm und unverständig. Wie sie in ihrer Reise kommen an einen Ort / da sich zween Wege scheideten / entstund unter ihnen ein Zanck / welchen Weg sie gehen wolten. Der Unverständige / wie er sahe / daß der eine Weg grün und lustig / sprach zu seinem Bruder / wir wollen diesen lustigen Weg gehen: Der Verständige sagte / nicht also / Bruder / laß uns den unebenen Weg gehen /dann der grüne und lustige Weg führet uns in eine Herberg / darinn Räuber sich auffhalten / und wir werden in Lebens-Gefahr kommen. Der Tumme und Unverständige hält an / es möchte sein[690] Bruder mit ihm den grünen Weg gehen. Der Bruder lässet sich überreden. Sie gehen auff den Wege fort / den der Unverständige erwehlet. Indem sie nun fortgehen / kommen sie an den Ort / da die Räuber sich auffhielten. Sie werden gefangen genommen / und sollen getödtet werden: Der Kluge unter diesen beyden bittet / ihm sein Leben zulassen / sein tummer und unverständiger Bruder habe ihn verführet. Der Tumme antwortet: Ich habe nicht Schuld / sondern mein Bruder; Dann ist er so klug als er ausgiebet / warum hat er sich von mir verführen lassen / wäre er den andern Weg gegangen /ich hätte ihm wol folgen müssen. Der Richter / als er den Zanck anhöret / fället ein solches Urtheil. Du Tummer hast den klugen Bruder nicht hören wollen: Und du Verständiger hast dem Rath des Tummen gefolget. Ihr seyd würdig / daß ihr beyde getödtet werdet.


Die fleischlichen Lüste rathen offt der vernünfftigen Seelen den Sünden-Weg zulauffen / und gerathen dadurch beede ins Verderben / und in die Hölle.

Quelle:
Lauremberg, Peter: Neue und vermehrte Acerra philologica, Das ist: Sieben Hundert auserlesene, nützliche, lustige und denckwürdige Historien und Discursen, aus den berühmtesten griechischen und lateinischen Scribenten zusammengetragen [...], Frankfurt am Main, Leipzig, 1717, S. 690-691.
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