76. Von einen Löwen und Löwin / denen eine Bärin die Jungen umgebracht hat.

[735] Ælianus gedencket einer denckwürdigen Geschicht /so sich zugetragen auff dem Berg Pardio in Thracia von einem Löwen und einer Löwin. Als ihnen / weil sie auff der Jagt gewesen / ihre Jungen in der Höle von einer Bärin umkommen / und solches befunden /eilen sie der Bärin geschwinde auff dem Fusse nach /und als dieselbe für grosser Furcht sich behende auff einen Baum macht / bleib die Löwin bey dem Baum /siehet hinnauff mit unverwanten Augen / und wartet der Bärin auff den Dienst: Der Löwe aber gehet auff dem Berge herum / winselnde und wehklagende / wie ein Mensch / biß er einen Zimmermann / der da Holtz fällen wolte / antrifft / und wie derselbige hefftig erschrickt / daß ihm auch die Axt aus den Händen entfällt / und der Löwe solches mercket / so richtet er ihn auff / stellet sich gar freundlich gegen ihn / und trucknet ihm sein Angesicht mit seiner Zungen / daß der Mann wieder einen Muth bekommt. Der Löwe umfängt ihn mit seinem Schwantz / führet ihn fort /[735] und will ihn auch die Axt / so ihm entfallen war / nicht lassen hinter sich verlassen / und als der Mann solche Andeutung nicht verstehet / fasset der Löwe die Axt mit dem Munde und reichet sie ihm / und führet ihn also zu seiner Höle / da die Jungen innen todt lagen. Und wie die Löwin solches siehet / läufft sie auch in grosser Eil dahin / weiset ihm den kläglichen Unfall /und die Bärin auff den Baume / daraus der Mann muthmasset / was da müste geschehen seyn. Hauet derohalben mit Gewalt den Baum um / daß die Bärin auff die Erde fällt / die zerreissen sie alsobald / und führet der Löwe den Mann unverletzt wieder an seinen Ort / von dem er ihn abgeholet hatte.


1. Auch die grausamsten Thiere sorgen für die Jungen.

2. Gehen solchen wilden Bestien ihre Jungen so zu Hertzen / wie solten es Eltern über ihr Hertz bringen können / daß sie sich nicht solten kräncken / wenn ihre Kinder in Unglück / Noth und Tod gerathen.

3. Die unvernünfftigen Thiere seyn danckbarer gegen ihre Wohlthäter / als manche Menschen / die offt gutes mit bösen vergelten.

4. Nothleidenden soll man zu Hülffe kommen / und Mitleiden mit ihnen haben.

Quelle:
Lauremberg, Peter: Neue und vermehrte Acerra philologica, Das ist: Sieben Hundert auserlesene, nützliche, lustige und denckwürdige Historien und Discursen, aus den berühmtesten griechischen und lateinischen Scribenten zusammengetragen [...], Frankfurt am Main, Leipzig, 1717, S. 735-736.
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