48. Vom Sprichwort: [576] Areopagita incorruptior taciturnior.

Zu Athen war ein schlechter und unansehnlicher Ort /mit Rohr oder Stroh gedecket / und Areopagus genannt / in welchem alle wichtige Sachen gerichtlich entschieden und geurtheilet wurden. Es war aber dieser Ort wegen Aufrichtigkeit / Weißheit und Verschwiegenheit der Richter berühmt und hochgehalten / daß auch die Götter selbst sich diesem Gericht und Urtheil der Areopagiten zu unterwerffen erbothen haben. Daher ist entsprungen das Sprichwort: Areopagita incorruptior, taciturnior, das ist: Er ist aufrichtiger und verschwiegener als ein Areopagit; Welches gebraucht wird von einem Richter der sich weder durch Gunst noch Haß / weder durch Freundschafft noch durch Feindschafft / noch durch einige Geschencke bestechen läst / daß er ein partheyisch Urtheil fälle. Damit aber aus Anschauen der Personen weder Furcht noch Mitleiden an ihnen erweckt würde /haben sie nicht bey Tage / sondern bey Nacht Gericht gehalten: Auch nicht zugelassen / daß die streitige Partheyen oder deren Advocaten sich einiger Vorrede oder umschweiffiger Rede gebrauchten / sondern durch ein besonder Gesetz befohlen / daß der Sachen Beschaffenheit nur, schlechtlich erzehlich würden damit nicht die Richter durch die annehmliche Ueberredenheit verführet / ein unrecht Urtheil fälleten. Ein Exempel einer im Areopagitischen Gericht gesprochener[576] Sententz finden wir beym Ammiano Marcellino im 19. Buch seiner Geschichte / welches zwar im ersten Anblick lächerlich zu seyn scheinet / wann man es aber was reiffer betrachtet / nicht so gar ungereimt ist.

Ein Weib / Nahmens Smyrnæa, ward angeklagt vor dem Dolabella, daß sie ihren Sohn und Ehemann durch Gifft hingerichtet hätte. Das Weib gestund zwar die That / sagte aber sie wäre durch die natürliche Liebe darzu getrieben worden / weil die beyde ihren hertzlieben Sohn / welchen sie mit einem andern Manne in voriger Ehe gezeuget / als Meuchelmörder umgebracht hätten. Dolabella konte die Sache nicht entscheiden / verwieß derohalben die Partheien an die Areopagiten / welche nach Erkäntniß der Sache diesen Bescheid ertheilten: Daß der Kläger und die Beklagte schuldig seyn solten / nach verflossenen 100. Jahren wiederum persöhnlich zu erscheinen / und das End-Urtheil anzuhören. Aber darum urtheileten sie also damit sie nicht nöthig hätten / die Mörderin loß zubrechen / oder dieses Weib / welches mehr aus mütterlicher Zuneigung / als Blutdürstigkeit den Tod ihres jeden Sohns gerächet hätte / mit der Straffe des Todschlags zu bestraffen. Ein ander Exempel eines Areopagitischen Urtheils ist zu lesen beym Aristotele zu seinem ersten Buche von guten Sitten.


Aufrichtigkeit und unpartheiligkeit stehet einem Richter sehr nahe an / aber wie viel findet man deren wol heut zu Tage.

Quelle:
Lauremberg, Peter: Neue und vermehrte Acerra philologica, Das ist: Sieben Hundert auserlesene, nützliche, lustige und denckwürdige Historien und Discursen, aus den berühmtesten griechischen und lateinischen Scribenten zusammengetragen [...], Frankfurt am Main, Leipzig, 1717, S. 576-577.
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