9. Clorinda betrachtet den theuren Verlurst der edlen zum Heyl von Gott gegebenen/ und von ihro boßhafft-zugebrachten Zeit

Recogitabo tibi omnes annos meos in amaritudine animæ meæ.

Isa. 38. v. 15.


Ich will dir alle meine Jahr in Bitterkeit meiner Seelen gedencken.


1.

Beginn' ich meine Jahr

Ein wenig zu betrachten/

So muß ich nur nicht gar

In Kümmernuß verschmachten/

Dann ich Betrübte find'/

Daß wie der Rauch im Wind/

Mein Leben ohne Frucht

Genommen hat die Flucht!


2.

Ich hab von Kindheit an

Geführt ein eitles Leben/

Mich auff die Tugend-Bahn

Mit keinem Fuß begeben/

Mein gantze Arbeit war'

Die Schmückung meiner Haar:[82]

Kein ander Ding mein Ziel/

Als Lust/ und Freudenspiel.

3.

Die Andacht wolte mir

Durchaus nicht gehn zu Hertzen/

Ich suchte für und für

Nur mit der Welt zu schertzen:

In eitlem Müßiggang

Hab' ich mein Leben-lang

Die Zeiten zugebracht/

Des Heyls niemahl gedacht.


4.

Und ob ich schon (ô Spott!)

Zu seyn andächtig scheinte/

Ich dannoch es mit Gott

Niemahlen redlich meynte/

Fromm stellt' ich mich allein

Zum äusserlichen Schein:

Mein Welt-verwirrtes Hertz

War' immer anderwerts.


5.

Nun fühl' ich (aber ach

Zu spaht!) den grossen Schaden/

Weil Clotho allgemach1

Vollendet meinen Faden:

Wie hätt' nicht können ich

Mit Gott bereichen mich?

Nun muß ich arm/ und bloß

Mit Charon auff den Floß.2
[83]

6.

Und diese Armut wär'

Noch endlich zu erdulden/

Wann ich nur nicht so schwär

Beladen auch mit Schulden:

Nichts haben/ und doch ein

Noch grosser Schuldner seyn/

Ist ein sehr armer Stand/

Der selten ohne Schand.


7.

Wer arm/ doch Schulden-frey/

Kan noch getröstet sterben/

Dann niemand wird darbey

Gebracht in das Verderben:

Ich aber schuldig bin/

Daß meine Seel mithin

(Beraubet meiner Buß)

Elend verderben muß!


8.

Ich hab auff sie gemacht

Nur Schulden über Schulden/

Und sie dardurch gebracht

Aus ihres Gläubers Hulden/

Nun geht zum End dahin

Der strenge Pfands-Termin/

Und weil nichts in der Hand/

Gilt es das Unterpfand.


9.

So bald mir die Vernunfft

Gefangen an zu scheinen/[84]

Beginnt' ich nach der Zunfft

Der Uppigkeit zu geinen.

Der rauche Tugend-Weeg

Auff schmahlen Himmels-Steeg/

Den ich antretten solt'/

Mir nicht behagen3 wolt.


10.

Den Augen hab' ich gleich

Den freyen Flug gelassen/

Und sie ohn' alle Scheuh

Geschickt nach allen Gassen/

Wordurch ich dann gantz frech/

Im Sehen/ und Gespräch/

Fürwitzig angeschaut/

Was niemand sich getraut.


11.

Das Gegen-Theil-Geschlecht

Gefiehle mir vor allen/

Drumb sucht ich/ wo ich möcht'/

Demselben zu gefallen/

Ich schmuckte zum Verkauff

Mich auff das prächtigst auff/

Gold/ Perlen/ Edelgstein

Flocht in den Haaren ein.


12.

Ein Meer-Schneck müßte mir

Die bleiche Wangen färben/

Die schöne Seelen-Zier

Ließ' ich im Kaht verderben/[85]

Mir könnt kein teutsche Hand

Recht machen mein Gewand/

Um Kleyder schickt ich biß

Nach Lyon/ und Pariß.


13.

Ich gienge geil daher/

Zur Reitzung der Gelüsten/

Als wann ich Venus wär'/

Mit halb-entblößten Brüsten:

Viel keusche Augen hab'

Ich lockende Rahab,4

Durch mein' schamlose Tracht

Gantz geil und frech gemacht.


14.

Ich führte heimlich kein

Penelopeisch5 Leben/

Und dannoch wolt' ich seyn

Lucretia6 darneben:

Kein Mensch in gantzem Reich

War mir an Hoffart gleich/

Casiope7 so gar

Mir unvergleichlich war'.


15.

Bey allen Spielen führt'

Ich Uppigste den Reyen/

Ich gieng' herein geziert/

Wie Flora8 in dem Meyen/[86]

Es wallte mir das Blut

Im Leib vor Ubermuht:

Dem Spielen/ und dem Tantz

War' ich ergeben gantz.


16.

Nur an den Zucker-Huht

Wolt' ich den Schnabl wetzen/

Mein Hertz nach vollem Wuht

Der Sinnlichkeit ergützen:

Wann auff dem Marckt nur was

Rebhünlein/ oder Haas)

Seltzames kommen ein/

War' es unfehlbar mein.


17.

Gar offt bin ich zur Beicht/

Doch ohne Reu/ gegangen/

Hab' mich gar nicht gescheuht

Unwürdig zu empfangen

Zu meiner Seelen Todt

Das süsse Himmels-Brodt/

Hab' es zu seyn erkennt

Ein Brodt/ kein Sacrament.


18.

Das ist der blosse Schaum

Von meinem bösen Leben/

Weil ich vor Schmertzen kaum

Den Schatten kan angeben/

Aus Forcht der Aergernuß

Ich viel verschweigen muß/[87]

So meiner Seelen heiß

Offt macht biß auff den Schweiß.


19.

Wann erst wird zu Gericht

Der bleiche Richter sitzen/

Wie werd' ich arme nicht

Alsdann erbärmlich schwitzen!

Wann ich auch kleine Ding/

Die ich geschätzet ring/

Werd' in dem strengen Feur

Dort müssen zahlen theur.


20.

O Freunde dieses macht/

Daß ich in dunckler Hölen

Die böse Jahr betracht'

In Bitterkeit der Seelen:

Dann ich kein' Ursach hab'/

Die Traur zu legen ab/

Biß Daphnis zu mir sagt:

Steh auff bereute Magd.


Fußnoten

1 Der Tod.


2 Ein Höllischer Schiffmann. Poët.


3 Gefallen.


4 Eine offene Sünderin/ Iosue 2. v. 1.


5 Penelope eine Frau wunderlicher Keuschheit.


6 Lucretia eine keusche Römerin.


7 Ein sehr hoffärtiges Weib.


8 Die Göttin der Blumen/Poët.


Quelle:
Laurentius von Schnüffis: Mirantisches Flötlein. Darmstadt 1968, S. 78-79,82-88.
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