4. Clorinda trachtet in ihrer Aengstigkeit dem Zorn Gottes zu entfliehen/ befindet aber/ daß Gott allenthalben gegenwärtig

Quò ibo à Spiritu tuo? & quò à facie tua fugiam.

Psal. 138. v. 7.


Wo soll ich hingehen vor deinem Geist/ und wohin soll ich vor deinem Angesicht fliehen?


1.

O ihr verborgne Ritzen

In hoher Felsen Spitzen/

Ihr auffgespaltne Stein/

Seyt mir in meinem Jammer

Doch eine Zufluchts-Kammer/

Ach laßt mich bey euch ein!


2.

Ach aber bey den Steinen

Darff ich gar nicht erscheinen

Ohn grossen Zanck/ und Streit/

Weil ich den Lebens-Felsen/1

Den niemand kan umbwälsen/

Von mir gestossen weit.
[34]

3.

Ihr aber hole Krufften/

Ihr unbewohnte Klufften

In zugeschloßner Erd'/

Laßt mich in euer Tieffen

Verborgenheit verschlieffen/

Daß ich unsichtbar werd'.


4.

Ach aber keine Gräber

Seind frey von dem Urheber/

Der alles hat gemacht.2

Nichts kan in tieffer Erden

Vor ihm unsichtbar werden/

Er weißt von keiner Nacht.3


5.

Möcht ich dann mit den Knaben

Von Hamel mich vergraben/

Und ewig sperren ein:

So wolt' ich eingeschlossen

Gar gern/ und unverdrossen

Des Tods Gefangner seyn.


6.

Doch nein/ dann auch was Dunckel4

Scheint ihm/ gleich wie Carfunckel/

Die Nacht gläntzt/ wie der Tag/

Die Schatten ihme scheinen/5

Wie Gold/ in finstern heinen

Sich niemand bergen mag.
[35]

7.

Wann auch schon die Berg-Knappen

Die Aertz-vernarrte Lappen

Meil-tieff verstoßten mich/

So wurd' ich doch alldorten/

Gleich wie an allen Orten/

O Gott/ antreffen dich.


8.

Als Adam in den Hecken6

Sich forchtsam wolt verstecken/

Wurd' er gefangen bald:

Gott siht scharff ohne Brüllen/

Niemand kan sich verhüllen/

Auch nicht im dicksten Wald.


9.

Cain nicht könnte fliehen/7

Obschon sich wolt' entziehen

Der blutige Bößwicht:

Gott wurd' es eilends innen/

Er konnte nicht entrinnen

Vor seinem Angesicht.


10.

Jonas nach Tharsis flüchtig8

Hielt' alles schon für richtig

Holländisch durchzugehn.

Könnt' aber nicht entweichen/

Den Segel müßt er streichen/

Und Gott gehorsam stehn.
[36]

11.

Kein Ort ist also finster/

Und zu der Flucht gewünschter/

Als das Cimmerjer-Land/

Allwo die Sonn entfehret/

Die Nacht sechs Monat wehret

In unverwendtem Stand.


12.

Du aber Ursprungs-Bronnen9

Der Morgen-Röht/ und Sonnen/

Du beyde hast gemacht:

Vor dir ist nichts verborgen/

Dein ist der Tag/ und Morgen/

Der Abend und die Nacht.


13.

Man sagt viel von dem weiten/

Grund-losen aller Seiten/

Mæotischen Morast/

Daß niemand dorten wohne/

Als etwann (Zweiffels ohne)

Ein Welt-verwies'ner Gast.


14.

Dort mitten in den Rohren

Wolt' Ich/ ich wär' verlohren/

Und nicht zu finden mehr/

Dort' wolt' ich mich betragen/

Mein Elend heimlich klagen

Dem wanckenden Geröhr.
[37]

15.

Ach! aber aller Enden

Bin ich in Gottes Händen/

Wo niemand ist/ ist Er:

Sein Liecht unumbekräntzet10

Den Himmel übergräntzet/

Kein Ort ist seiner lähr.


16.

Vielleicht ist in dem nassen

Neptunus Reich gelassen

Zur Ausflucht noch ein Ort?

Wird dann/ wo Thetys11 wohnet/

Den Flüchtigen verschonet/

Daß sie unsträfflich dort?


17.

Ach nein! vergebens bellen12

Vor Gott die wilden Wellen/

Er herrschet über sie:

So klein ist kein Geschöpfflein/

(Auch nicht ein Wassertröpfflein)

So ihm verborgen je.


18.

Werd' ich mich schon aufschwingen/

Biß in den Himmel dringen/13

O Gott/ so bist du dort:

Erzeigest also mächtig/

So sichtbar/ und so prächtig

Dich auch an keinem Ort.
[38]

19.

Und werd' ich nach der Höllen

Mich auch begeben wöllen/14

O Gott/ so bist du da!

Du wirst da von den bösen

Ohn' einiges erlösen

Genug gefühlet ja.


20.

Nemm' ich früh meine Flügel/15

Und flieg' mit vollem Zügel

Biß an das End des Meers/

So wirst du mich berühren/

Mit deiner Rechten führen/16

Ich wöll' es/ oder wehrs.


Fußnoten

1 Christum den Heiland.


2 Ad Hebr. 4. v. 13.


3 Tenebræ non obscurabuntur à te. Psal. 138. v. 12.


4 Nox sicut dies illuminabitur. ibid.


5 Tenebræ ejus, ita & lumen ejus. Psal. 138. v. 12.


6 Gen. 3. v. 8.


7 Gen. 4. v. 14.


8 Ion. 1.


9 Psal. 73. v. 16. Tu fabricatus es auroram, & solem.


10 Iob. 37. v. 3.


11 Die Meer-Göttin/ das Meer.


12 Psal. 88. v. 10. Tu dominaris potestati maris.


13 Psal. 138. v. 8. Si ascendero in cælum, tu illic es.


14 Si descendero in infernum, ades.


15 Si sumpsero pennas meas disuculò, & habitavero in extremis maris.


16 Tenebit me dextra tua.


Quelle:
Laurentius von Schnüffis: Mirantisches Flötlein. Darmstadt 1968, S. 30-31,34-39.
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