Der Baum der Erinnerung

[47] Ja, du bist es, blütenreicher

Baum, das ist dein süßer Hauch!

Ich auch bins, nur etwas bleicher,

Etwas trauriger wohl auch.


Hinter deinen Blütenzweigen

Tönte Nachtigallenschlag,

Und die Holde war mein eigen,

Die an meinem Herzen lag.


Und wir meinten selig beide,

Und ich meint es bis zur Stund,

Daß so herrlich du vor Freude

Blühtest über unsern Bund.


Treulos hat sie mich verlassen;

Doch du blühst wie dazumal,

Kannst dich freilich nicht befassen

Mit der fremden Liebesqual.


»Allzulieblich scheint die Sonne,

Weht der linde Maienwind,[47]

Und das Blühen und die Wonne

Allzubald vorüber sind!«


Mahnend säuseln mir die Lehre

Deine frohen Blüten zu;

Doch ungläubig fließt die Zähre,

Und mein Herz verlor die Ruh.

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 47-48.
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