Liebe und Vermählung

[46] Erste Stimme


Sieh dort den Berg mit seinem Wiesenhange,

Die Sonne hat verzehrend ihn durchglüht,

Und Strahl auf Strahl noch immer niedersprüht;

Wie sehnt er nach der Wolke sich so bange!


Dort schwebt sie schon in ihrem luftgen Gange,

Auf deren Kuß die Blumenfreude blüht;

Wie flehend sich um ihre Neigung müht

Der Berg, daß sie sein Felsenarm umfange!


Sie kommt, sie naht, sie wird herniedersinken,

Er aber die Erquickungsreiche tief

Hinab in seinen heißen Busen trinken.


Und auferblühn in wonniger Beseelung

Wird, was an schönen Blüten in ihm schlief,

Ein treues Bild der Liebe, der Vermählung!


Zweite Stimme


Sieh hier den Bach, anbei die Waldesrose.

Sie mögen dir vom Lieben und Vermählen

Die wandelbaren, täuschungsvollen Lose

Getreuer viel, als Berg und Wölk, erzählen.[46]


Die Rose lauscht ins liebliche Getose,

Umsungen von des Haines süßen Kehlen,

Und ihr zu Füßen weint der Ruhelose,

Der immer naht, ihr immer doch zu fehlen.


Ein schönes Spiel! solang der Frühling säumt,

Die Rose hold zum Bach hinunter träumt,

Solang ihr Bild in seinen Wellen zittert.


Wenn Sommersgluten sie vom Strauche jagen,

Wenn sie vom Bache wird davongetragen,

Dann ist sie welk, der Zauber ist verwittert!

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 46-47.
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