Die Wurmlinger Kapelle

[50] Luftig, wie ein leichter Kahn,

Auf des Hügels grüner Welle

Schwebt sie lächelnd himmelan,

Dort die friedliche Kapelle.


Einst bei Sonnenuntergang

Schritt ich durch die öden Räume,

Priesterwort und Festgesang

Säuselten um mich wie Träume.


Und Marias schönes Bild

Schien vom Altar sich zu senken,

Schien in Trauer, heilig mild,

Alter Tage zu gedenken.


Rötlich kommt der Morgenschein,

Und es kehrt der Abendschimmer

Treulich bei dem Bilde ein;

Doch die Menschen kommen nimmer.


Leise werd ich hier umweht

Von geheimen, frohen Schauern,

Gleich als hätt ein fromm Gebet

Sich verspätet in den Mauern.


Scheidend grüßet hell und klar

Noch die Sonn in die Kapelle,

Und der Gräber stille Schar

Liegt so traulich vor der Schwelle.


Freundlich schmiegt des Herbstes Ruh

Sich an die verlaßnen Grüfte;

Dort, dem fernen Süden zu,

Wandern Vögel durch die Lüfte.


Alles schlummert, alles schweigt,

Mancher Hügel ist versunken,[51]

Und die Kreuze stehn geneigt

Auf den Gräbern – schlafestrunken.


Und der Baum im Abendwind

Läßt sein Laub zu Boden wallen,

Wie ein schlafergriffnes Kind

Läßt sein buntes Spielzeug fallen. –


Hier ist all mein Erdenleid

Wie ein trüber Duft zerflossen;

Süße Todesmüdigkeit

Hält die Seele hier umschlossen.

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 50-52.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Faust: Ein Gedicht
Gedichte
Die schönsten Gedichte
Gedichte (insel taschenbuch)
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)