Der Ring

[190] Jubelnd ist der Tag erschienen,

Schwingt den Goldpokal der Sonne,

Gießt auf Berg und Tal berauschend

Nieder seine Strahlenwonne.


In den Lüften aufzutauchen

Darf kein Wölkchen sich getrauen,

Auf das Glück der treuen Liebe

Will der ganze Himmel schauen.[190]


Nur die Lerchen, Freude singend,

Steigen auf im Morgenglanze,

Trunken von den Strahlengüssen

Jauchzt die Welle der Durance. –


In dem Garten, wo vor Jahren

Gingen in der Schattenkühle

Klara Hebert und Johannes

Mit verschwiegenem Gefühle;


Wo die lauten Nachtigallen

Süß verräterische Lieder

Sangen auf den grünen Zweigen:

Wandeln sie auch heute wieder.


Und in seliger Verschlingung

Kehren sie zum trauten Orte,

Wo vor Jahren ihre Liebe

Fand die ersten, leisen Worte.


Klara blüht in neuer Schöne,

Rosen, Fremdlinge seit lange,

Kehrten schüchtern heute wieder

Auf die freudenhelle Wange.


Nach dem hohen Felsenhause,

Das nun wieder wüst und einsam,

Wandeln Klara, ihre Mutter

Und Johannes froh gemeinsam.


Selbst die rauhen, öden Klippen

Hält die Freude jetzt umschlungen;

Nur wie leichte Nebel schleichen

Durchs Gestein Erinnerungen.


Als sie treten in das düstre

Und verhängnisvolle Zimmer,[191]

Treffen die erstaunten Frauen

Kruzifix und Kerzenschimmer.


Und dem Priester, der sie grüßet,

Harrt am Munde schon der Segen;

Auch der alte treue Marko

Eilt der Jungfrau froh entgegen. –


Klara trug das goldne Ringlein

Auf der stillen Herzenswunde,

Das ihr scheidend einst gegeben

Johann in der bangen Stunde.


Den Smaragd am Ringe damals

Sah das Volk gar hell erglänzen,

Mit prophetischem Gemahnen

An das Grün von Myrtenkränzen.

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 190-192.
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