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[226] Wie Freundinn fühlen Sie die Wunde

Die nicht dem Gatten blos, auch mir das Schicksal schlug!

Mir der nur Zeuge war von mancher frohen Stunde

Von jedem Wort aus ihrem Munde

Das das Gepräg der innern Grösse trug.

Ganz von der armen Welt vergessen,

Wie oft hat sie beglückt durch sich

Auf seinem Schooß mit Siegerstolz gesessen!

Ach und ihr Blick erwärmt' auch mich.

Auch ich auch ich im seeligsten Momente

Schlug eine zärtliche Tangente

Zur grossen Harmonie in ihrem Herzen an

Mit ihrem Bruder, ihrem Mann.

Wie hob mich das Gefühl auf Engelschwingen

Zu edlern Neigungen empor,

Wie warnt' es mich bey allzu feinen Schlingen,[226]

Daß ich nie meinen Werth verlohr.

Mein Schutzgeist ist dahin, die Gottheit die mich führte

Am Rande jeglicher Gefahr,

Und wenn mein Herz erstorben war

Die Gottheit die es wieder rührte.

Ihr zart Gefühl das jeden Mißlaut spührte

Litt auch kein Wort, auch keinen Blick

Der nicht der Wahrheit Stempel führte.

Ach diese Streng' allein erhält das reinste Glück

Und ohne sie sind Freundschaftliche Triebe,

Ist selbst der höchste Rausch der Liebe

Nur Mummerey die uns entehrt,

Nicht ihres schönen Namens werth.


Wie wenn ich itzt mein künftig Glück beschriebe?

Wie wenn mir das an Ihnen bliebe

Fürtrefliche! was ich an ihr verlor?

Wenn mir die Seelige in der Verklärten Chor

Sie selber dazu auserkohr?

O womit dankt' ich ihr und Ihnen?

Womit, womit könnt ich dies Glück verdienen,

Der Freundschaft unverdächtig Glück,

Die nur dem Werth den sie am andern kannte

Und seiner Dauer nur den liebevollen Blick

Und mit ihm Himmelsfreuden sandte.

Quelle:
Jakob Michael Reinhold Lenz: Gedichte, Berlin 1891, S. 226-227.
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