99.
Ausfluß des Herzens

[234] Oft fühl' ichs um Mitternacht;

Dann stehn mir die Thränen im Auge,

Und ich fall' im Dunkel vor dir aufs Knie, –

Du prüfst mir das Herz, und ich fühl' es noch wärmer.


Heilig ist es – von Gott –

Was im Herzen glüht. Laut ruft es in mir,

Gott! – Laut ruft's dir entgegen. Es dringt

Durch die Gebeine, und auch die Gebeine fühlen's.


Wo ist's, dieß Bild? daß ich's umfasse –

Das Bild Gottes, das meine Seele liebt?

Ich wollt' es durchschauen; mein Arm sollt mit ihm verwachsen,

Und tief prägt' ichs ins Herz.


Ach ein Bild! Gott du hießt es

Den Genius mir vor Augen halten.

Wach ich früh am Morgen, so steht es vor mir;

Leg ich mich nieder, so schwebt es vor meiner Stirn.


Bät' ich zu dir – wenn Himmel und Erde

Um mich vergeh'n – wenn du nur, und ich in dir

Noch bin – dann lächelt dieß Bild in voller Klarheit

Mir entgegen, daß das Herz mir hinweg schmilzt.


Weg! – daß der Strom – er kocht mir im Herzen –

Sich hier vor dem Herrn ergiesse!

Herr! ich will – ach! ich will es noch mehr!

Herr! dieß Verlangen – den himmlischen Zug![235]


Ach vor dir! ja, nur dir – O, führe mich hin!

Es ist eine Seele, gleich gestimmt mit mir –

Ich bin nicht ganz ohne sie – mit ihr

Eins – soll ich die Ewigkeit genießen.


Herr, ich sahe ein Mädchen – So wie dieß

Müss' ein Mädchen seyn.

Die edle Gottesseele flammt im Auge –

Lieb', Unschuld, Größe, Wärme, Adel!


Ach Gott! – Mich däucht, ich sähe das Bild

Das vor meiner Seele schwebt.

Die ganze Seele fing an sich zu heben,

Noch nie gefühlte heilige Erschütterung


Durchschauert' jede Nerve mir,

Der Geist wuchs. Ich liebte dich reiner,

Ich fühlte mir Kraft, Tugend zu üben,

Wie ich zuvor nie sie gefühlt.

Quelle:
Jakob Michael Reinhold Lenz: Gedichte, Berlin 1891, S. 234-236.
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