X

[186] Nach einiger Zeit hörte aber Ssergej ganz auf, von der Erbschaft zu sprechen. Dafür nahm jetzt Fedja Ljamin alle Gedanken und Regungen Katerina Lwownas gefangen. Sie war nun immer nachdenklich und gegen Ssergej oft sogar unfreundlich. Ob sie schläft, oder den Geschäften nachgeht, oder betet, – immer denkt sie an das eine: »Wie ist es nun? Warum muß ich seinetwegen das ganze Kapital verlieren? Ich habe so viel durchgemacht, habe eine solche Sünde auf mich genommen,[186] und er kommt gefahren und nimmt mir ruhig alles ab ... Wenn er wenigstens ein erwachsener Mensch wäre, aber er ist nur ein kleines Kind ...«

In diesem Jahre kamen die Fröste früh. Von Sinowij Borissowitsch war natürlich nichts zu hören. Katerina Lwowna nahm von Tag zu Tag an Leibesumfang zu und war immer nachdenklich. In der Stadt sprachen die Leute nur noch von ihr: die junge Ismajlowa ist doch immer kinderlos und mager gewesen, und nun ist sie plötzlich so aufgedunsen. Das ist doch seltsam! Der junge Miterbe Fedja Ljamin ging aber indessen in einem leichten Halbpelz aus Eichhornfellen auf dem Hofe herum und brach mit den Absätzen das Eis in den Pfützen ein.

»Du, Fjodor Ignatjewitsch!« schrie ihm manchmal die Köchin Aksinja zu. »Paßt es denn für dich, den Kaufmannssohn, in den Pfützen herumzustapfen?«

Der Miterbe, der Katerina Lwowna und ihrem Geliebten solche Sorgen machte, sprang aber so vergnügt wie ein Böcklein den ganzen Tag herum; nachts schlief er ruhig und sorglos unter der Obhut seiner Großtante und dachte gar nicht daran, daß jemand ihm in den Weg treten und sein glückliches Dasein verdunkeln könnte.

Fedja lief so lange auf dem Hofe herum, bis er eines Tages die Windpocken bekam. Zu den Windpocken gesellte sich auch eine Lungenentzündung. Der Junge lag krank darnieder. Man behandelte ihn zuerst mit allerlei Hausmitteln und ließ schließlich auch den Arzt kommen.

Der Arzt kam alle paar Tage ins Haus und schrieb Arzneien auf. Der Junge bekam sie alle paar Stunden nach der Uhr. Die Großtante selbst gab sie ihm ein. Manchmal mußte es auch Katerina Lwowna tun.[187]

»Bemühe dich einmal, Katerina,« sagte sie ihr. »Du bist gesegneten Leibes, erwartest das Gericht Gottes, also kannst du dich auch einmal bemühen.«

Katerina Lwowna tat der Alten den Gefallen. Wenn jene in die Kirche ging, um »für den auf dem Krankenlager liegenden Knaben Fjodor« zu beten oder ein Stückchen Hostie für ihn zu holen, saß Katerina Lwowna am Bette des Kranken und gab ihm pünktlich seine Arzneien ein.

So ging die Alte auch am Festtage der Darstellung Mariä in die Kirche zur Abendmesse und Frühmesse und bat Katerina Lwowna wieder, nach dem Jungen zu sehen. Fedja ging es schon viel besser.

Katerina Lwowna kommt zu Fedja ins Zimmer, er sitzt aber schon in seinem Eichhornpelz auf dem Bette und liest.

»Was liest du, Fedja?« fragte Katerina Lwowna, sich in den Sessel vor seinem Bette setzend.

»Ich lese im Heiligenleben, Tantchen.«

»Ist es interessant?«

»Sehr interessant, Tantchen.«

Katerina Lwowna stützt den Kopf in die Hand und blickt auf Fedja, der lautlos die Lippen bewegt. Wie wenn sich alle Dämonen von den Ketten losgerissen hätten, bemächtigt sich ihrer plötzlich wieder der alte Gedanke, daß dieser Junge ihr soviel Böses zufüge und daß es viel besser wäre, wenn es ihn gar nicht auf der Welt gäbe.

– Er ist krank, – dachte sich Katerina Lwowna. – Er nimmt Arzneien ein ... Einem kranken Kind kann ja manches zustoßen ... Hinterher kann man sagen, daß der Arzt eine unrechte Medizin verordnet hat ...[188]

»Ist es nicht Zeit, die Medizin zu nehmen, Fedja?«

»Bitte, Tantchen!« sagte der Junge. Er schluckte die Medizin herunter und fügte hinzu: »Das Buch ist sehr interessant, Tantchen, es wird darin das Leben der Heiligen beschrieben.«

»Lies nur, lies,« versetzte Katerina Lwowna. Sie sah sich kaltblütig im Zimmer um und richtete den Blick auf das mit Eisblumen überzogene Fenster.

»Man muß die Fenster schließen lassen,« sagte sie. Dann ging sie durch das Gastzimmer in den Saal und von dort zu sich ins Schlafzimmer. Hier setzte sie sich hin.

Nach etwa fünf Minuten trat ins Schlafzimmer in einem mit Seebärenfell besetzten Halbpelz Ssergej.

»Hat man die Fenster geschlossen?« fragte ihn Katerina Lwowna.

»Man hat sie geschlossen,« antwortete Ssergej. Er putzte die Kerze und stellte sich vor den Ofen.

Beide schwiegen.

»Heute geht die Abendmesse wohl nicht so bald zu Ende?« fragte Katerina Lwowna.

»Morgen ist ein großer Feiertag, der Gottesdienst wird heute lange dauern,« antwortete Ssergej.

Es entstand wieder eine Pause.

»Ich muß nach Fedja schauen, er ist allein,« sagte Katerina Lwowna, sich erhebend.

»Allein?« fragte Ssergej, sie mürrisch anblickend.

»Ja, allein,« antwortete sie leise: »Warum?«

Von einem Augenpaar zum andern zuckten schnelle Blitze; aber keiner von ihnen sagte ein Wort.

Katerina Lwowna ging hinunter und machte eine Runde[189] durch die leeren Zimmer. Überall war es still; vor den Heiligenbildern brannten ruhig die Lämpchen; ihr eigener Schatten huschte über die Wände; die Außenläden waren schon geschlossen, und die Fensterscheiben tauten auf und tränten. Fedja saß auf dem Bett und las. Als er Katerina erblickte, sagte er ihr:

»Tantchen, legen Sie, bitte, dieses Buch weg und geben Sie mir das andere, das auf dem Heiligenschrein liegt.«

Katerina Lwowna erfüllte die Bitte des Neffen und gab ihm das Buch.

»Willst du nicht einschlafen, Fedja?«

»Nein, Tantchen, ich möchte auf die Großtante warten.«

»Warum willst du auf sie warten?«

»Sie versprach mir, geweihtes Brot von der Abendmesse mitzubringen.«

Katerina Lwowna wurde plötzlich blaß: ihr eigenes Kind regte sich eben zum erstenmal unter ihrem Herzen, und sie fühlte Kälte in der Brust. Sie stand noch eine Weile mitten im Zimmer da und ging hinaus, die erkaltenden Hände gegeneinander reibend.

»Nun!« flüsterte sie, leise ins Schlafzimmer tretend, wo Ssergej noch immer vor dem Ofen stand.

»Was denn?« fragte Ssergej kaum hörbar. Ihm stockte der Atem.

»Er ist allein.«

Ssergej runzelte die Brauen und begann schwer zu atmen.

»Komm!« sagte Katerina Lwowna hastig, sich zur Türe wendend.[190]

Ssergej zog sich schnell die Stiefel aus und fragte:

»Was soll ich mitnehmen?«

»Nichts!« hauchte Katerina Lwowna und führte ihn leise hinaus.

Quelle:
Ljesskow, Nikolai: Eine Teufelsaustreibung und andere Geschichten. München 1921, S. 186-191.
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