XI

[191] Der kranke Knabe fuhr zusammen und ließ das Buch auf den Schoß sinken, als Katerina Lwowna zum drittenmal zu ihm hereinkam.

»Was hast du, Fedja?«

»Ach, Tantchen, ich habe solche Angst, ich weiß selbst nicht warum,« antwortete er, lächelnd und sich unruhig in eine Ecke des Bettes drückend.

»Wovor hast du Angst?«

»Wer war eben mit Ihnen, Tantchen?«

»Wo? Niemand war mit mir, mein Liebling.«

»Niemand?«

Der Knabe beugte sich zum Fußende des Bettes vor, kniff die Augen zusammen, blickte zur Türe, durch die seine Tante soeben gekommen war, und beruhigte sich.

»Es ist mir wohl nur so vorgekommen,« sagte er.

Katerina Lwowna lehnte sich an die Kopfwand seines Bettes.

Fedja blickte die Tante an und fragte sie, warum sie so blaß sei.

Katerina Lwowna hüstelte nur und blickte erwartungsvoll auf die Türe des Gastzimmers. Dort knarrte leise ein Dielenbrett.

»Ich lese eben die Lebensgeschichte meines Namenspatrons Fjodors des Stratilaten. Was der für ein gottgefälliges Leben führte!«

Katerina Lwowna stand schweigend da.[191]

»Tantchen, wollen Sie sich nicht hinsetzen? Ich möchte Ihnen vorlesen!« sagte der Neffe, sie liebevoll anblickend.

»Wart, ich komme gleich, ich will nur das Lämpchen im Saal richten,« antwortete Katerina Lwowna und verließ schnell das Zimmer.

Im Gastzimmer wurde ganz leise, fast unhörbar geflüstert; das Kind hörte es aber in der tiefen Stille mit seinen scharfen Ohren.

»Tantchen! Was ist denn das? Mit wem tuscheln Sie denn?« schrie der Knabe mit tränenerstickter Stimme. »Tantchen, kommen Sie doch her, ich habe solche Angst!« rief er nach einem Augenblick noch klagender: es kam ihm vor, als ob die Tante im Gastzimmer zu jemand »Jetzt!« gesagt hätte. Der Knabe bezog es auf sich.

»Was hast du Angst?« fragte Katerina Lwowna heiser, mit festen, entschlossenen Schritten ins Zimmer tretend. Sie stellte sich vor das Bett so hin, daß ihr Körper die Gastzimmertüre vor den Blicken des Kranken verdeckte. »Leg dich!« sagte sie ihm.

»Ich will nicht, Tantchen.«

»Nein, Fedja, hör auf mich, leg dich ... Es ist spät ... Leg dich ...« wiederholte Katerina Lwowna.

»Was fällt Ihnen ein, Tantchen! Ich will noch gar nicht liegen.«

»Nein, leg dich, leg dich,« sagte Katerina Lwowna mit veränderter, abgerissener Stimme. Sie nahm den Jungen unter den Achseln und legte ihn gewaltsam hin.

In diesem Augenblick stieß Fedja einen wahnsinnigen Schrei aus: er sah Ssergej, blaß und barfuß ins Zimmer treten.[192]

Katerina Lwowna drückte ihre Hand auf den vor Entsetzen weit geöffneten Mund des Kindes und schrie:

»Schnell! Halt ihn einmal, damit er nicht zappelt!«

Ssergej packte Fedja an Armen und Beinen, Katerina Lwowna warf mit einem schnellen Ruck ein großes Daunenkissen auf das Gesicht des unglücklichen Kindes und legte sich mit der ganzen Schwere ihres Rumpfes darauf.

An die vier Minuten herrschte im Zimmer eine Grabesstille.

»Er hat genug,« flüsterte Katerina Lwowna. Kaum hatte sie sich aber erhoben, um alles in Ordnung zu bringen, als die Wände des stillen Hauses, das so viele Verbrechen in sich barg, von wuchtigen Schlägen erdröhnten: die Fenster klirrten, die Böden bebten, die Lämpchen vor den Heiligenbildern zitterten an ihren Ketten, und unheimliche Schatten huschten über die Wände.

Ssergej fuhr zusammen und stürzte hinaus; Katerina Lwowna rannte ihm nach, und das Dröhnen folgte ihnen. Es war, wie wenn überirdische Kräfte das sündige Haus bis auf den Grund erschütterten.

Katerina Lwowna fürchtete, daß der von Entsetzen gepeitschte Ssergej hinauslaufen und sich durch seinen Schreck verraten könnte; er lief aber in das Schlafzimmer hinauf.

Als Ssergej die Treppe hinaufgelaufen war, schlug er im Finstern mit der Stirne an die Tür und stürzte, ganz wahnsinnig vor Entsetzen, die Stufen hinunter.

»Sinowij Borissowitsch, Sinowij Borissowitsch!« stammelte er, kopfüber die Treppe hinunterstürzend und Katerina Lwowna umwerfend und mit sich reißend.[193]

»Wo?« fragte sie.

»Da flog er eben als ein eisernes Blech über uns vorbei! Da fliegt er!« schrie Ssergej auf. »Da dröhnt er schon wieder!«

Nun war es klar, daß viele Hände von außen gegen alle Fenster hämmerten und auch die Türe einzuschlagen versuchten.

»Narr! Steh auf, Narr!« schrie Katerina Lwowna. Mit diesen Worten lief sie schnell wie der Blitz in Fedjas Zimmer, legte seinen toten Kopf in der natürlichen Stellung eines Schlafenden auf die Kissen hin und machte mit fester Hand die Türe auf, in die ein großer Haufen Menschen einzudringen suchte.

Das Bild, das sich ihr bot, war schrecklich. Katerina Lwowna blickte über die Köpfe der Menge, die die Haustüre belagerte, sah viele unbekannte Menschen über den hohen Zaun in den Hof klettern und hörte das Brausen vieler Stimmen.

Katerina Lwowna hatte noch nicht Zeit gehabt, die Sachlage zu erfassen, als die Menschen, die vor der Türe standen, über sie herfielen und sie zurück ins Haus drängten.

Quelle:
Ljesskow, Nikolai: Eine Teufelsaustreibung und andere Geschichten. München 1921, S. 191-194.
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