XII

[194] Dieser Menschenauflauf war aber folgendermaßen entstanden. In allen Gotteshäusern der recht großen und lebhaften Kreisstadt, in der Katerina Lwowna lebte, hatte sich am Vorabend des großen Festes eine Menge Menschen angesammelt; in der Kirche aber, die morgen ihr Altarfest feiern sollte, war das Gedränge so groß, daß keine Stecknadel zu Boden fallen konnte. In dieser Kirche sang ein Chor, der aus Handelsgehilfen bestand und von[194] einem bekannten Liebhaber der Gesangskunst dirigiert wurde.

Unser Volk ist religiös und dem Gottesdienste zugetan; außerdem haben die Leute bei uns eine künstlerische Ader, und schöner Chorgesang und prunkvoller Gottesdienst sind für sie der reinste Hochgenuß. Wenn in einer Kirche ein Chor singt, läuft gleich die halbe Stadt zusammen; in erster Linie aber der Handels- und der Arbeiterstand: Handelsgehilfen, Lehrjungen, Handlanger, Fabrikarbeiter und auch die Geschäftsinhaber selbst mit ihren Gemahlinnen. Alle drängen sich in einer der Kirchen zusammen, ein jeder will wenigstens vor der Kirchentüre oder vor dem Fenster, selbst bei brennender Sonnenglut, selbst bei strengstem Frost stehen und den tiefen Bässen und kunstvollen Tenören, wenn sie ihre Variationen singen, lauschen.

In der Kirche, zu deren Sprengel das Ismailowsche Haus gehörte, gab es einen Altar zur Darstellung Mariä. Zu derselben Zeit, als sich alles oben Beschriebene mit Fedja abspielte, hatte sich die Jugend der ganzen Stadt in dieser Kirche versammelt; die Leute verzogen sich nach dem Gottesdienste in Scharen und besprachen die Vorzüge des bekannten Tenors und die Fehler des ebenso bekannten Basses.

Aber nicht alle interessierten sich so für die musikalischen Dinge; in der Menge gab es auch Leute, die andere Fragen erörterten.

»Seltsame Dinge erzählt man sich von der jungen Ismailowa,« sagte der junge Maschinist, den sich einer der Kaufleute für seine Dampfmühle aus Petersburg verschrieben hatte, mit seinen Freunden am Ismailowschen[195] Hause vorbeigehend. »Man sagt, daß sie mit ihrem Angestellten Ssergej ein Liebesverhältnis hat ...«

»Das ist ja allen bekannt,« sagte ein Mann in einem mit blauem Nanking besetzten Schafspelz. »Sie war heute wohl auch gar nicht in der Kirche.«

»Ach was, Kirche! Die Frau ist so tief gesunken, daß sie weder vor Gott, noch vor ihrem Gewissen, noch vor den Menschen Angst hat!«

»Schaut nur, da brennt bei ihr Licht,« sagte der Maschinist, auf einen Spalt im Fensterladen zeigend, durch den ein Lichtschein drang.

»Sieh mal hinein, was sie jetzt treiben,« schlugen einige Stimmen vor.

Der Maschinist stützte sich auf die Schultern zweier Freunde, blickte durch den Spalt hinein und schrie entsetzt auf:

»Brüder! Da wird gerade jemand erwürgt!«

Der Maschinist begann mit aller Kraft an den Fensterladen zu klopfen. An die zehn Mann folgten seinem Beispiel und hämmerten mit den Fäusten gegen die Fenster.

Die Menge wuchs von Augenblick zu Augenblick an, und so entstand die uns bereits bekannte Belagerung des Ismailowschen Hauses.

»Ich hab es gesehen, mit meinen eigenen Augen hab ich es gesehen,« bezeugte der Maschinist vor Fedjas Leiche. »Das Kind lag auf dem Bett, und die beiden würgten es.«

Ssergej wurde noch am gleichen Abend ins Gefängnis abgeführt; Katerina Lwowna sperrte man aber in ihrem Schlafzimmer ein und stellte zwei Wachtposten vor die Türe.[196]

Im Ismailowschen Hause war es nun unerträglich kalt; die Öfen wurden nicht geheizt, die Türen standen den ganzen Tag offen, und eine neugierige Volksmenge löste die andere ab. Die Leute sahen sich den offenen Sarg mit Fedjas Leiche an, und auch den andern großen geschlossenen Sarg, der daneben stand. Fedja hatte an der Stirne ein weißes Atlasband, das den von der Sektion herrührenden Schnitt verdecken sollte. Die gerichtsärztliche Untersuchung hatte ergeben, daß Fedja an Erstickung gestorben war, und Ssergej, den man vor die Leiche führte, brach, gleich nach den ersten Worten des Geistlichen vom Jüngsten Gericht und von den ewigen Qualen der unbußfertigen Sünder, in Tränen aus und gestand nicht nur den Mord an Fedja ein, sondern bat auch, die Leiche des von ihm ohne christliches Begräbnis verscharrten Sinowij Borissowitsch auszugraben. Die Leiche des letzteren, die im trockenen Sande lag, war noch nicht verwest; man grub sie aus und legte sie in den großen Sarg. Zum allgemeinen Entsetzen bezeichnete Ssergej Katerina Lwowna als die Mitschuldige an den beiden Verbrechen. Katerina Lwowna antwortete auf alle Fragen: »Ich weiß von nichts.« Als man sie aber mit Ssergej konfrontierte, und sie sein Geständnis hörte, blickte sie ihn erstaunt, doch ohne Zorn an und sagte gleichgültig:

»Wenn es ihm schon einmal eingefallen ist, alles zu gestehen, so will auch ich nicht länger leugnen: ich habe die Morde begangen.«

»Zu welchem Zweck?« fragte man sie.

»Nur ihm zuliebe«, antwortete sie, auf Ssergej zeigend, der mit gesenktem Kopf dastand.[197]

Die beiden Verbrecher wurden in getrennte Gefängniszellen gesperrt, und der grauenhafte Fall, der weit und breit Aufsehen und Empörung erregte, kam bald vors Gericht. Ende Februar wurde das Urteil verkündet: Ssergej und die Kaufmannswitwe Katerina Lwowna Ismailowa sollten auf dem Marktplatze ihrer Stadt mit der Knute bestraft und dann auf die Katorga nach Sibirien verschickt werden. An einem frostigen Märzmorgen zeichnete der Scharfrichter Katerina Lwownas entblößten weißen Rücken mit der vorgeschriebenen Zahl von blauroten Striemen; dann verabreichte er die gleiche Portion auch Ssergej und brannte ihm in sein hübsches Gesicht die drei Katorgamale.

Ssergej erregte bei den Leuten aus irgendeinem Grunde viel mehr Mitgefühl als Katerina Lwowna. Als er blutbefleckt die Stufen des schwarzen Schafotts herunterging, fiel er beinahe um. Katerina Lwowna hielt sich aber aufrecht und ruhig und war nur darauf bedacht, daß das grobe Hemd ihr nicht den zerfetzten Rücken scheuere.

Als man ihr im Gefängnisspital ihr neugeborenes Kind reichte, sagte sie nur: »Hol es der Kuckuck!« Dann wandte sie sich ohne einen Ton von sich zu geben zur Wand und fiel mit der Brust auf das harte Bett.

Quelle:
Ljesskow, Nikolai: Eine Teufelsaustreibung und andere Geschichten. München 1921, S. 194-198.
Lizenz:
Kategorien: