Drei und zwanzigster Teil

1765
V. Den 27. Junii 1765
Drei hundert und zwei und dreißigster Brief

[323] Der Verfasser der »Versuche über den Charakter und die Werke der besten italienischen Dichter145«, ist ein Mann, der eine wahre Hochachtung für sich erwecket. So ein Werk hat uns gefehlt, und es mit so vielem Geschmacke ausgeführet zu sehen, konnten wir wünschen, aber kaum hoffen. Er ist der erste Übersetzer, wenn man den, der eine so genaue Bekanntschaft mit allen den besten Genies einer ganzen Nation zeiget, der ein so feines Gefühl mit einem so richtigen Urteile verbindet, unter dessen Bearbeitung so verschiedne Schönheiten in einer Sprache, für die sie gar nicht bestimmt zu sein schienen, einen Glanz, ein Leben erhalten, das mit der Blüte, in welcher sie auf ihren natürlichen Boden prangen, wetteifert: wenn man, sage ich, so einen Schriftsteller anders einen Übersetzer nennen darf; wenn er nicht vielmehr[323] selbst ein Original ist, dem auch die Erfindsamkeit nicht mangeln würde, hätte es sich ihrer, uns zum besten, nicht itzt entäußern wollen.

Man kann mit Wahrheit sagen, daß die italienische Literatur noch nie recht unter uns bekannt geworden. Zwar war einmal die Zeit, da unsere Dichter sich fast nichts als welsche Muster wählten. Aber was für welche? Den Marino mit seiner Schule. Der Adonis war unsern Posteln und Feinden das Gedicht aller Gedichte. Und als uns die Kritik über das Verdienst dieser Muster und dieser Nachahmer die Augen öffnete, so erwogen wir nicht, daß unser falscher Geschmack gerade auf das schlechteste gefallen war, sondern Dante und Petrarca mußte die Verführung ihrer schwülstigen und spitzfindigen Nachkommen entgelten. Concetti ward die Ehrenbenennung aller italienischen Gedichte, und wenn der einzige Tasso sich noch einigermaßen in Ansehen erhielt, so hatte man es fast einzig und allein den Sprachmeistern zu verdanken.

Der Inhalt dieser Versuche wird daher für die meisten Leser auch das Verdienst der Neuheit haben, und unsere guten Köpfe werden ganz unbekannte Gegenden und Küsten darin entdecken, wohin sie ihr poetisches Commercium mit vielem Vorteile erweitern können. Den Vorzug, der die italienische Dichtkunst insbesondere unterscheidet, setzet der Verfasser in die Lebhaftigkeit der Einbildungskraft und den Reichtum an Bildern, die mit der Stärke und mit der Wahrheit ausgemalet sind, daß sie sich in die Gegenstände selbst zu verwandeln scheinen. Und dieses ist gleich die Seite, von welcher unsere Dichtkunst nur sehr zweideutig schimmert. Ich sage zweideutig; denn auch wir haben malerische Dichter die Menge; aber ich besorge sehr, daß sie sich zu den malerischen Dichtern der Italiener nicht viel anders verhalten, als die Niederländische Schule zu der Römischen. Wir haben uns zu sehr in die Gemälde der leblosen Natur verliebt; uns gelingen Szenen von Schäfern und Hirten; unsere komische Epopeen haben manche gute Bambocciade; aber wo sind unsere poetische Raphaels, unsere Maler der Seele?

Das Vortreffliche der italienischen Dichter hat indes unsern[324] Verfasser nicht geblendet; er siehet ihre Schwäche und Fehler, wie ihre Schönheiten. Man muß bekennen, sagt er, daß sie bei weiten mit der Stärke nicht denken, mit der sie imaginieren. Daher kömmt die Unregelmäßigkeit des Plans, nach dem die meisten ihrer Gedichte angelegt sind; daher die häufigen Ungleichheiten, und der Mangel an starken und neuen Gedanken, die einen denkenden Geist so angenehm in den Schriften der Engländer beschäftigen; dieses ist endlich die Ursache, die zu weilen auch einige ihrer besten Dichter zu den leeren Spitzfindigkeiten verleitet hat, die den italienischen Geschmack in so übeln Ruf gebracht haben.

Die poetische Landkarte, die er bei dieser Gelegenheit entwirft, scheinet dem ersten Ansehen nach ein Spiel des Witzes zu sein, und ist im Grunde mit aller Genauigkeit einer gesunden Kritik aufgenommen. »Man kann bemerken, sagt er, daß jemehr sich die Völker dem Süden nähern, mit desto leichterer Nahrung sich ihre Seelen so wohl als ihre Körper befriedigen. Der Engländer braucht ohne Zweifel die schwereste und die solideste. Seinem Geschmack ist vielleicht der unsrige am ähnlichsten. Dem Franzosen ist diese Nahrung zu stark, er muß sie mit Esprit verdünnen, oder er ist im Notfall auch mit Esprit allein zufrieden. Die Italiener entsagen gern beiden, wenn man nur ihre Einbildungskraft durch Gemälde beschäftiget, und ihr Gehör durch einen musikalischen Klang vergnügt. Die Spanier sind endlich so mäßig, daß sie sich mit einem bloßen prächtigen und harmonischen Schalle, mit einer Reihe tönender Worte begnügen können. Man hat in der Tat Poesien von ihren berühmtesten Dichtern, die niemals ein Mensch, auch ihre Verfasser selbst nicht verstanden haben, die aber sehr gut klingen und voll von prächtigen Metaphern sind. So verschieden ist der Geschmack der Völker, so verschieden ihre Vorzüge.«

Der Verfasser bedienet sich bei den Werken, die er uns bekannt macht, der Ordnung der Zeit, und diese Ordnung hat den Vorteil einer Geschichte, die den Ursprung und das Wachstum der italienischen Dichtkunst zeiget, und uns die verschiedenen Veränderungen in dem Geschmacke der Nation vor Augen stellet. Den ersten Band nehmen also Dante[325] und Petrarca ein, und wir lernen diese Väter der welschen Poesie in ihrer wahren Gestalt kennen. Der zweite Band enthält die Dichter des funfzehnten Jahrhunderts, und aus dem sechzehnten die vornehmsten Nachahmer des Petrarca? nebst demjenigen Dichter, den man eigentlich den Dichter der Nation nennen muß, dem Ariost.


Der Beschluß folgt künftig


VI. Den 4. Julii 1765
Beschluß des dreihundert und zwei und dreißigsten Briefes

Die geringe Anzahl der guten Dichter des funfzehnten Jahrhunderts, des Zeitalters der Medices, dieser großmütigen Beschützer und Aufmunterer aller Künste und Wissenschaften, veranlaßt den Verfasser zu einer Anmerkung, die eben so scharfsinnig als wahr ist. Da sie auf den äußerlichen Zustand der deutschen Literatur gewissermaßen angewendet werden kann, so wünschte ich sehr, daß sie diejenigen endlich ein mal zum Stillschweigen bringen möchte, die über den Mangel an Unterstützung so häufige und bittere Klagen führen, und in dem Tone wahrer Schmeichler den Einfluß der Großen auf die Künste so übertreiben, daß man ihre eigennützige Absichten nur allzudeutlich merkt. »Man irret sehr, sagt er, wenn man den Mangel großer Genies zu gewissen Zeiten dem Mangel der Belohnungen und Aufmunterungen zu schreibt. Das wahre Genie arbeitet, gleich einem reißenden Strome, sich selbst seinen Weg durch die größte Hindernisse. Shakespeare, der zu einem Handwerke erzogen worden, ward ein großer Poet, ohne irgend eine Aufmunterung zu haben, ja so gar, ohne selbst es zu wissen. Einer der größten heutigen italienischen Dichter macht, als ein armer Bäcker junge, Verse, die einen großen Kunstrichter in Erstaunen setzen, und ihn bewegen, sich seiner anzunehmen. Überhaupt können Aufmunterungen niemals Genies erzeugen; und sie[326] schaden gewiß allemal denen, die es schon sind, wenn der Gönner nicht selbst den wahren, den großen Geschmack der Künste besitzet. Einen Beweis davon findet man vielleicht selbst in den so gerühmten Freigebigkeiten Ludwigs des vierzehnten, die ihm so viel Ehre gemacht haben. Alle die großen Genies, die seiner Regierung den größten Glanz gaben, waren ohne seine Aufmunterung entstanden, und Racine, der so sehr den Geschmack der Natur hatte, dessen Genie mit dem Geiste der Alten genährt war, hätte vermutlich seine Tragödien nicht durch so viel Galanterie entnervet, wir würden mehr Athalien von ihm haben, wenn ihn nicht diese Aufmunterungen genötiget hätten, dem Geschmacke eines weibischen Hofes zu schmeicheln. Der wichtigste Nachteil aber, welchen der große Schutz vielleicht nach sich ziehet, den die schönen Wissenschaften bei Regenten finden, ist dieser, daß dadurch die Begierde zu schreiben, zu sehr ausgebreitet wird, daß so viele, bloß witzige Köpfe sich an Arbeiten wagen, die nur dem Genie zukommen. Diese, welche die großen Züge der Natur nicht erreichen können, (denn die trifft allein das Genie) suchen sich durch neue Manieren, durch Affektationen zu unterscheiden, oder führen das Publikum von der Natur zum Gekünstelten. Dieses ist vermutlich die Ursache, daß allemal auf die Zeiten der großen Beschützer der Künste, Zeiten des übeln Geschmacks und des falschen Witzes gefolgt sind.«

Eine andere kleine Ausschweifung unsers Verfassers wird Ihnen zeigen, daß er nicht allein Dichter zu schätzen fähig ist. Sie betrifft den Machiavell. »Machiavell,« sagt er, ein sehr großer Kopf, den wir aus seinem Fürsten zu wenig kennen, und zu unrichtig beurteilen, brachte nach der »Calandra« des Kardinals Bibiena, ein paar Komödien auf den Schauplatz, in denen das Salz des Moliere, mit dem Humor und der komischen Stärke der Engländer vereiniget ist. Dieser Machiavell ist es außerdem, der die Prose der Italiener zu ihrer wahren Vollkommenheit gebracht hat. Er vermied die aufgedrungenen, weitschweifigen Perioden des Boccaz. Sein Stil ist rein, kurz gedrängt, und voll Sachen, und beständig klar. Seine Geschichte von Florenz ist die erste unter den[327] wenigen neuern Geschichten, die man den schönen historischen Werken der Alten an die Seite setzen kann. Sie vereiniget die Klarheit und Reinigkeit des Nepos in der Erzählung mit dem Tiefsinn und der Stärke des Tacitus in den Betrachtungen. Aber keines von seinen Werken macht ihm so viel Ehre, als die »Diskurse über den Livius«, ein ganz originales Werk, das voll von Entdeckungen in der Staatskunst ist, deren verschiedene man in den Werken des Präsidenten Montesquieu, als die seinigen, bewundert, weil man den Italiener nicht genug kennt, den Montesquieu sehr studieret hatte.

Mit eigentlichen Proben aus den gewählten Stücken will ich Ihnen nicht langweilig werden. Sie haben das meiste längst im Originale gelesen, und wenn ich Ihnen nochmals wiederhole, daß sich in der Übersetzung eine Meisterhand zeiget, welche die Schönheiten der Versifikation, die notwendig verloren gehen müssen, nicht bloß mit der reinsten, geschmeidigsten, wohlklingendsten Prose, sondern auch mit unzählig kleinen Verbesserungen und Berichtigungen desjenigen, was in der Urschrift oft ein wenig schielend, ein wenig affektiert ist, kompensieret hat: so werden Sie ohne Zweifel die Vergleichung selbst anstellen wollen.

Herr Meinhardt, so heißt unser Verfasser, hat sich selbst eine Zeitlang in Italien aufgehalten; ein Umstand, welcher allein ein gutes Vorurteil für ihn erwecken kann. Vor kurzen, wie ich höre, hat er eine zweite Reise dahin unternommen; es wäre sehr zu beklagen, wenn die Fortsetzung seines Werks darunter leiden sollte. Meinen Sie aber, daß dieser würdige Mann vielleicht eine Prädilektion für die Italiener habe? Sie irren sich; er muß mit der englischen Literatur eben so bekannt sein, als mit der welschen. Denn ihm haben wir auch die Übersetzung von Heinrich Homes »Grundsätzen der Kritik«146 zu danken. Hier mußte sich der schöne Geist mit dem Philosophen in dem Übersetzer vereinigen. Es war ein Rätsel für mich, in welchem von unsern Übersetzern ich diese Vereinigung[328] suchen sollte. Ein ganz unbekannter Name mußte dieses Rätsel lösen. Sie freuen sich; aber Sie wundern sich zugleich. Erinnern Sie sich, was Seneca sagt: Einige sind berühmt; andere sollten es sein.

N. S. Ich weiß nicht, ob gewisse Gedichte, die vor einiger Zeit unter dem Namen »Petrarchischer Gedichte«147 ans Licht getreten, bereits eine Frucht der nähern Bekanntschaft sein sollen, in die Hr. Meinhardt unsere Dichter mit dem Petrarca gebracht hat. Das weiß ich aber, daß diesen Gedichten, welche für sich betrachtet, sehr artig sind, das Beiwort Petrarchischer ganz und gar nicht zukömmt. Ist es doch auch ein bloßer Zusatz des Herausgebers, der selbst zweifelt, ob der Verfasser damit zufrieden sein werde. Er kann unmöglich; denn sein Ton ist mehr der spielende Ton des Anakreons, als der feierlich seufzende des Petrarca. Der platonische Italiener guckt nicht so lüstern nach des Busens Lilgen, und wenn er Tod und Ewigkeit mit den Ausdrücken seiner Zärtlichkeit verwebt, so verwebt er sie damit; an statt daß in den deutschen Gedichten das Verliebte und das Fromme, das Weltliche und das Geistliche, wie in dem ruhigen Elementglase, in ihrer ganzen klaren abstechenden Verschiedenheit neben einander stehn, ohne durch ihre innere Vermischung jene wollüstige Melancholie hervorzubringen, welche den eigentlichen Charakter des Petrarca ausmacht.

G.

145

Braunschweig, im Verlage des Waisenhauses, erster Band 1763. zweiter Band 1764 in 8.

146

Leipzig in der Dyckischen Handlung. Erster und zweiter Teil, 1763 in 8.

147

Berlin 1764 in 8.

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 5, München 1970 ff., S. 323-329.
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