Vierzehnter Teil

[321] 1762


VI. Den 13. Mai 1762
Zweihundert und drei und dreißigster Brief

Wie kömmt es, fragen Sie in einem Ihrer Briefe, daß man mir nichts von der merkwürdigen Ausgabe der Lichtwerschen Fabeln sagt, die ein Ungenannter, ohne Vorwissen des Verf.144 herausgegeben, und davon in öffentlichen Blättern so verschiedentlich geurteilt wird? – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – In der Tat eine seltene Begebenheit! Von Seiten des ungenannten Herausgebers war der Schritt, meines Erachtens, eben so unbillig, als unerhöret. Er war unbillig, denn Hr. L. kann allezeit die Erfindungen seines Geistes als sein wahres Eigentum betrachten, in welchem sich niemand, ohne des Eigentumsherrn Vorwissen, unterstehen darf, Veränderungen vorzunehmen, und sollten es auch die allerglücklichsten Verbesserungen sein. – – – – – – – – – – – – – – – Wollte der Ungenannte seine Kritik üben, oder der Welt[321] seinen feinen Geschmack zeigen; so war ein andrer weit billigerer Weg für ihn übrig. – – – – – – – Aber so wie er es anfing, mußte sich Herr L. notwendig beleidiget finden, denn alle Schmeicheleien, die er ihm in dem Vorbericht vorsagt, konnten die gekränkte Vaterliebe eines Autors unmöglich besänftigen, der das Unglück hat, die Geburten seines Geistes, wie von einer Fee unter der Hand in ganz andere Gestalten verwandelt zu sehen. – – – – – – – – – – – – – – – Man kann also, wie mich deucht, nicht in Abrede sein, daß das Verfahren des ungenannten Verbesserers unbillig sei, und daß Hr. L. sich mit Recht über ihn beschwere.


»Nein! sagt unser Freund Hr. G. Man kann die Sache zur Entschuldigung des Ungenannten aus einem ganz andern Augenpunkte betrachten. Es ist noch nicht ausgemacht, daß sich das Eigentumsrecht über die Werke des Geistes so weit erstrecket. Wer seine Schriften öffentlich herausgibt, macht sie durch diese Handlung publici juris, und so denn stehet es einem jeden frei, dieselbe nach seiner Einsicht zum Gebrauch des Publikums bequemer einzurichten. Zumal da dem Autor durch diese Handlung nichts von seinem Rechte benommen wird, indem das erste Geschenk, das er dem Publico gemacht hat, deswegen nicht vernichtet wird, und er selbst noch immer die Freiheit hat, die ihm angebotene Veränderungen nach Belieben anzunehmen, oder zu verwerfen. Mit dem Eigentum der Güter dieser Welt hat es eine ganz andere Beschaffenheit. Diese nehmen nicht mehr als eine einzige Form an, und niemand als der Besitzer hat das Recht diejenige Form zu wählen, die er für die bequemste hält. Hingegen bleibet die erste Ausgabe einer Schrift unverändert, und eine von einem andern veranstaltete verbesserte Auflage, ist bloß als ein Vorschlag anzusehen, wie nach der Einsicht dieses Herausgebers das Werk vollkommener gemacht werden könnte. Gesetzt der Vorschlag werde angenommen; so kömmt, wie der Herausgeber in dem Vorberichte bemerkt, dennoch die größte Ehre dem ersten Verfasser zu, der seine meisten Gemälde so weit gebracht hat, daß nur wenige Pinselzüge für eine fremde Hand übrig gelassen waren. Wird der Vorschlag gemißbilliget, so kann ihn der noch lebende Verfasser öffentlich verwerfen, und das Publikum hat das[322] Vergnügen, den Ausspruch zu tun. Wenn ja in dergleichen Verfahren eine Ungerechtigkeit Statt findet; so müßte es vielmehr gegen einen tuten Verfasser sein, der nicht mehr vermögend ist, sich über die vorgeschlagenen Verbesserungen zu erklären. Hat man es aber einem Rammler und einem Lessing nicht übel genommen, vielmehr Dank gewußt, daß sie einen Logau nach ihrer Weise verbessert heraus gegeben; warum will man es denn dem Ungenannten zu einem solchen Verbrechen anrechnen, daß er einem lebenden Verfasser seine Verbesserungen zur Beurteilung vorlegt, und sich gefallen läßt, ob er dieselben annehmen, oder ausschlagen will.« –


So weit Herr G.!

144

Unter dem Titel: M. J. Lichtwers u.s.w. auserlesene verbesserte Fabeln und Erzählungen in zweien Büchern. Greifswalde und Leipzig. 1761.

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 5, München 1970 ff., S. 321-323.
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