Zehntes Kapitel

[199] Am zweiten Juni achtzehnhundert einundvierzig brachen wir von Breslau auf. Wir fuhren nur zu zweien, meine Tante Pauline Lewald und ich. Der Onkel hatte zu der Reise einen neuen, schönen Reisewagen gekauft, das Gepäck war bequem untergebracht, die Kammerjungfer saß auf dem Bock, und in der zurückgeschlagenen, ganz offenen Berline war man behaglich wie zu einer Spazierfahrt um die Stadt.

Es war fünf Uhr Morgens, als der Postillon in das Horn stieß, als die Peitsche knallte, die Zurückbleibenden mit den Tüchern winkten, und wir rasch vorwärts kommend, den Hof der Eisenbahn, deren Direktor mein Onkel war, hinter uns zurückließen. Der Thau lag noch auf den Sträuchen und Bäumen der Promenade, die Sonne leuchtete hell und durch keine Dunstatmosphäre behindert, die Vögel sangen an allen Ecken und Enden, und hier und da gaukelten ein paar Schmetterlinge, von der Art, welche wir als Kinder die Citronenvögel nannten und sehr hoch hielten, spielend über unsern Häuptern, als wollten sie uns noch ein Ende das Geleit geben, oder mit uns in die Weite ziehen.

Es ist schön, so in den Frühling hineinzufahren![199] Man hat dabei immer eine gewisse besitznehmende Empfindung, und in der That nimmt man ja auch mit dem Geiste Besitz von dem Stück Erde, dessen Bild sich unserer Phantasie einprägt. Es ist nur für uns vorhanden, es ist uns unverlierbar für alle Zeit.

Ich war sehr heiter an dem Morgen. Seit jenem Tage, in welchem ich zum ersten Male mit meinem Vater Königsberg verlassen, hatte ich nicht wieder eine Reise gemacht, bei welcher ich einem Fremden, Unerwarteten entgegen gegangen wäre. Grade in dem Ahnen, in der Unbestimmtheit, in dem Hoffen auf des Zufalls Anmuth, liegt aber das Spannende, welches uns bei dem Beginne einer Reise so belebend aufregt. Seit eilf Jahren war ich eigentlich nie ganz von Herzensgrunde froh gewesen; an dem Tage war ich fröhlich und sorglos wie ein Kind. Ich hatte meinen Vater wohl und kräftig wiedergesehen, wußte mich von den Menschen, die mir die Liebsten waren, geliebt und gewürdigt, wie ich sie liebte und würdigte, und war also ganz und gar zufrieden und voll guten Muthes für die Zukunft.

Bis kurz vor Liegnitz kannte ich die Straße, dann lenkte sie in einer mir fremden Richtung ein, und das ganze Riesengebirge lag nun mit seinen blauen, zum Theil schneebedeckten Höhen, zu meiner großen Ueberraschung, plötzlich vor uns ausgebreitet da. Es war die erste bedeutende Bergkette, welche ich erblickte, und gleich damals stieg in mir die Empfindung auf, die ich den Bergen, diesen steinernen Wundern gegenüber stets gefühlt; ich sehnte mich nicht eigentlich nach ihrer Höhe hinauf, sondern weit über sie hinweg und hinaus in das Freie. Sie[200] erschienen mir als eine Verlockung, als ein Antrieb und ein Hinderniß zu gleicher Zeit. Starr in sich selbst, regen sie die Seele zur Bewegung auf, und in sich abgeschlossen, erwecken sie ein Verlangen nach Freiheit und Schrankenlosigkeit. Man verlangt in der Ebene nicht leicht nach ihrem Abschluß, nach ihrer Beschränkung, aber man begehrt aus und von den Bergen nach dem freien Blicke in das Weite, und es beruht das sicherlich auf jenem Wesen des menschlichen Geistes, welches überall nach einer relativen Unendlichkeit trachtet.

Wir fuhren am ersten Tage über Liegnitz bis nach Waldau, einem schönen Dorfe, in welchem wir ein gutes Nachtquartier fanden, saßen früh um vier Uhr am andern Morgen wieder im Wagen, kamen dicht bei dem freundlichen Görlitz, an der schönen Landeskrone, die sich wie eine Pyramide in mäßiger Höhe aus der Ebene aufrichtet, und an dem Schlachtfelde von Hochkirch vorüber, passirten bei Liegnitz die Katzbach, hielten uns eine Weile in Bunzlau, eine längere Zeit in dem hübschen Bautzen auf, und langten Nachmittag um fünf Uhr in Dresden an, als die Sonne hell auf den zierlich zugespitzten Thurm der Schloßkirche schien, und deren Zacken und Kanten, Kreuze und Statuen goldig beleuchtete.

Denke ich an die Stimmung zurück, in welcher ich mich damals befand, so begreife ich es nachträglich, wie meine Tante gar nicht müde wurde, mir zu wiederholen, daß sie eine große Freude an mir habe. Es entzückte mich Alles, es war mir Alles lebendig, es regte mich Alles an. Wie ein Hintergrund zu einer Reihe von historischen Gemälden, breitete die Gegend, durch welche[201] wir fuhren, sich vor mir aus. Der alte Fritz und der siebenjährige Krieg, Blücher und die begeisterten Vaterlandsvertheidiger, die Augustäi'sche Herrschaft in Sachsen, mit ihrem Luxus und ihrer Galanterie, mit ihrer Verschwendung und ihrer Sittenlosigkeit, die Nachahmung des großen französischen Königthums in dem lieblichen Dresden, die Erscheinung Napoleon's in demselben, beschäftigten mich lebhaft. Neben den Menschen, die sich um uns her bewegten, neben den langsam behäbigen Dresdnern, die mit der Gemächlichkeit pensionirter Beamten auf der Terrasse umher gingen, als wir dort unsern Abendspaziergang machten, neben den Fremden, welche vor dem Pavillon ihren Kaffee tranken und ihr Eis verzehrten, sah ich immer die Gestalten des vergangenen Geschlechtes an mir vorüberschreiten, und ihre gestickten farbigen Röcke, ihre Galladegen, ihre Reifröcke und Schönpflästerchen schienen mir mehr auf diese sich weit und fürstlich ausbreitende Terrasse hinzugehören, als der Frack und die Tracht der vierziger Jahre.

Dazu wiegten der warme Sommerabend und die im Verhältniß zu meiner Heimath so viel südlichere Natur, mir die Seele in ein weiches Träumen ein. Alles, was ich dachte, wurde mir zum Bilde, jedes Bild hatte in meiner Seele seine eigene Musik, und zum ersten Male seit meiner Jugend dämmerte mit der großen Freude, die mich bewegte, der Glaube in mir auf, ich werde und müsse einst noch erreichen, was ich von Jugend auf ersehnt, ich müsse noch einmal lieben können und geliebt werden, noch glücklich werden auf der Welt, weil sie so[202] schön sei, und weil es mir so außerordentlich gut auf ihr gefiel.

Ich hatte für diese Hoffnung, für diese Zuversicht keinen andern Grund als denjenigen, welcher die Gläubigen dazu bringt, felsenfest auf ihre einstige Unsterblichkeit zu bauen. Unser Bedürfniß, unsere Fähigkeit dünken uns ein Rechtsanspruch; wir meinen fordern zu dürfen, was wir begehren, und Erfüllung heischen zu dürfen für das von uns Erstrebte. Das ist logisch und unlogisch zugleich, mag man die Welt und den Menschen in ihr, als das Geschöpf eines allweisen und allgütigen Gottes betrachten, oder sich sagen, es könne sich in der Natur und ihrem Ineinandergreifen von Nothwendigkeit und Freiheit kein Bedürfniß entwickeln, für das keine Befriedigung vor handen sei.

Die halbe Woche in Dresden verging uns sehr angenehm. Ich war wieder einmal in den Bereich der Offenbarungen gerathen, denn die Gallerie erschloß mir eine neue Welt des Schönen. Die Rafaelische Madonna, der Christus mit dem Zinsgroschen, die Venusgestalten Tizians erfüllten mir die ganze Seele mit ihrer Erhabenheit, und in der Wonne darüber, daß es mir möglich war, wenigstens in Worten festzuhalten, was ich erschaute, schrieb ich, müde und aufgeregt zugleich, in den einzelnen Stunden, welche wir im Hotel zubrachten, die längsten Briefe, ja ganze Hefte nieder, um den Vater und die Geschwister im Wiederscheine mit genießen zu lassen, was mich so hoch erfreute.

Von dem lieblichen Dresden gingen wir durch die sächsische Schweiz nach Teplitz, und mir war wieder einmal[203] zu Muthe wie einem Kinde vor den hundert Herrlichkeiten seines Weihnachtstisches. Ich konnte kaum glauben, daß dies Alles mein eigen sein sollte.

Abends auf der Bastei, auf der wir übernachteten, traf ich Landsleute, Königsberger, an. Ich saß mit ihnen als die Tante sich zur Ruhe begeben hatte, noch bis Mitternacht im Freien. Ein Franzose, ein blessé de Juillet, mit tiefer Schußnarbe in der Wange, der mit meinen Königsbergern verwandt war, sprach von den Julitagen; mein alter Landsmann, Stadtrath Andersch, erzählte von der Heimath. Es war dunkles Gewölk am Himmel, der Wind zog langsam durch die Baumwipfel, ganz unten in der Tiefe des Thales dämmerte hie und da in einem Hause ein Licht auf. Ich hörte zu, ich sah umher, ich genoß die Frische der wehenden Luft auf der Höhe, und ich hatte dabei abwechselnd die Bilder vor Augen, welche ich in der Gallerie gesehen hatte. Es war beinahe zu viel, und unwillkürlich sagte ich mir im Stillen die alten Verse vor: »O! wunderschön ist Gottes Erde und werth darauf vergnügt zu sein, drum will ich, bis ich Asche werde, mich dieser schönen Erde freu'n!«

Ich empfand alles Gute, das mir mein Leben hindurch zu Theil geworden war, als ein großes Ganzes, ich erinnerte mich aller der Güte, deren ich schon genossen hatte, mit tiefer Rührung. Ich dachte an meinen Vater, der nach der Tagesarbeit nun schon schlief, an meine Schwestern, die gar keine Vorstellung von den Herrlichkeiten hatten, die ich in mich aufgenommen, ich dachte an meine Brüder und ihre verschiedenen Lebenswege, und ich dachte auch an alle die Geliebten, die ich in Breslau zurückgelassen[204] hatte. Ich hing an diesen lieben Menschen allen, ich hätte nicht leben mögen, ohne zu wissen, daß sie mit mir lebten, daß sie mich liebten; aber ich war doch glücklich, allein zu sein. Ich lebte für mich. Ich war, was ich war, durch meine Kraft, durch mein Talent, durch mich selbst – und ich war frei! Frei! Der Nachtvogel, der über unserm Haupte hinzog, dünkte mich nicht freier zu sein als ich!

Es war ein unbeschreiblich, beglückendes Gefühl, mit dem ich von der stillen Höhe in das weite, dunkle Land hinabschaute! Und wie ich an dem Morgen bei unserer Abfahrt von Breslau geistig Besitz genommen von der schönen Welt, so nahm ich nun Besitz von mir selbst.

Die Zeit meiner Hörigkeit war vorüber, die Zeit meiner Freiheit dämmerte vor mir auf! Ich hatte es in meiner Hand, was ich aus meiner Zukunft machen wollte![205]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 3, Berlin 1871, S. 199-206.
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